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Spirituelle Begleitung bei schwerkranken und sterbenden Kindern und Jugendlichen

* Überarbeiteter Vortrag gehalten beim 1. Forum für pädiatrische Palliativ- und Hospizversorgung in Nordhessen, 5. November 2016 in Kassel.

Die Frage, wie man schwerkranke und sterbende junge Menschen unterstützen kann, bewegt das therapeutische Personal in Krankenhaus und ambulanter Betreuung, aber auch die Familien und ehrenamtlichen Begleiter. Natürlich haben die Behandler und Therapeuten heute ein großes Repertoire an medizinischem und pflegerischem Wissen, Können und an Versorgungsstrukturen. Es bleibt aber die Frage, wie Kinder und Jugendliche ihr Schicksal in ihrem Inneren als Persönlichkeiten bewältigen und wie die Helfer junge Menschen in ihrer Innenseite so begleiten können, dass sie in sich Kräfte finden, mit denen sie durch die Zeit, die ihnen bleibt, gut und heil hindurchkommen.

Ganz allgemein gilt die These: Menschen verarbeiten Krankheit und Sterben nicht nur auf der körperlichen, der emotionalen und sozialen, sondern auch auf der existenziellen und spirituellen Ebene. – Wie aber setzen sich Kinder – auch ganz kleine Kinder – und Jugendliche mit ihrem Schicksal auseinander und was heißt für diese Patientengruppe „Spiritualität“? Und für die berufliche und betreuende Praxis heißt die Frage, wie die Helfer die Spiritualität von Kindern wahrnehmen und mit dieser Dimension so umgehen können, dass sie zu einer Ressource für die Patienten und ihre Familien wird. – Auch wenn der Autor dieses Beitrags Seelsorger ist, beschränken sich die folgenden Überlegungen nicht auf die Arbeit der Fachseelsorge. Es geht vielmehr um „Seelsorge“ und spirituelle Begleitung in einem weiten Sinn, wie alle Helfer sie anbieten und leisten können.

Entscheidend für die Anliegen der spirituellen Begleitung – nicht nur bei Kindern – ist, von welchem Verständnis von Spiritualität ausgegangen wird.

Im postmodernen Diskurs besteht längst ein Einvernehmen darüber, dass Spiritualität nicht mit „Religion“ identisch ist. Ebenso herrscht ein gewisser Konsens darüber, dass Spiritualität auch gerade an Religion gebunden sein kann. Schließlich ist es tiefstes Anliegen religiöser Einstellung und Praxis, spirituelle Erfahrung möglich zu machen und zu vermitteln. Es ist also beides zu respektieren: Menschen, die Spiritualität aus ihrer Religion schöpfen und solche, die sich ganz ohne religiösen Bezug als spirituell verstehen. Viele und zunehmend mehr junge Menschen im westlichen Kulturkreis begegnen heute der Religion gleich gar nicht. Alle Menschen aber haben es verdient spirituell ernstgenommen zu werden. Die Helfer müssen also allen Einstellungen von Menschen begegnen können, wenn sie davon ausgehen, dass kranke und sterbende junge Patienten auch spirituelle Ressourcen zur Bewältigung ihres Schicksals brauchen.

Beim Lesen der Literatur zu Spiritual Care fällt allerdings auf, dass Spiritualität bei jungen Patienten (auch und gerade kleinen Kindern) mit Begriffen umschrieben wird wie: Beschäftigung mit dem Sinn des Lebens, Sinnsuche, Erfahrung des Göttlichen, existenzielle Fragen, metaphysische Suche, Transzendenzbezug, Erfahrung des Numinosen, Letztfragen, (wo komm ich her,…). Dies alles kann man natürlich immer wieder einmal bei Kindern und Jugendlichen beobachten. Spiritualität wird bei solchen Umschreibungen aber doch sehr auf bewusste gedankliche und sprachliche Formen von inneren Einstellungen reduziert. Ebenso wird bei Spiritualität von Kindern oft gleich die Frage „was kommt eigentlich nach dem Tod?“ assoziiert.

In diesem Beitrag wird dagegen eine möglichst weite und offene Umschreibung vorgeschlagen, die für Menschen aller Lebensalter brauchbar ist:

Spiritualität ist zu verstehen als der „innere Geist“ in einem Menschen, mit dem er durch´s Leben geht, aus dem heraus er sein Dasein empfindet, er sein Leben gestaltet und mit dem er auch sein Schicksal zu bewältigen sucht. Dieser „Geist“ ist bei weiten nicht nur rational zu verstehen; er ist als Lebenseinstellung und Sinnerfahrung auch nicht reflektiert in jedem Menschen, also auch in jedem kleinen und großen Kind. – So gesehen meldet sich die spirituelle Dimension eines Menschen nicht erst bei Lebenskrisen und bei lebensbedrohlicher Krankheit. Die Prämisse dieses Beitrags ist vielmehr: Jeder Mensch – auch ein Kind – hat ein spirituelles Potenzial in sich, das er von Anfang seines Lebens in sich trägt, das sich im Lauf des Lebens erheblich wandeln kann und das bei kleinen und großen Herausforderungen und Krisen in die Bewältigung dieser Krisen einbezogen werden kann. – Und: mit diesem Potenzial kommen alle Helfer im Krankenhaus und in der hospizlichen und palliativen Betreuung in Kontakt.

Die Frage, der in diesem Beitrag weiter nachgegangen werden soll, lautet also nicht, ob Kinder (bereits) eine Spiritualität haben, sondern wie die Helfer und Begleiter damit so in Beziehung kommen, dass die spirituelle Dimension zu einer Ressource und zu einem Heilungsbeitrag in Krankheit und Krise werden kann.

Was also sind Zugangsmöglichkeiten zur spirituellen Dimension für die Helfer? In der Palliativszene wird die spirituelle Anamnese eingesetzt und geschult. Damit sollen die nichtseelsorglichen Berufe ein Instrument an die Hand bekommen, wie sie das Thema Spiritualität und Religion bei ihren Patienten ansprechen können. Standardfragen, die allerdings in der Praxis abzuwandeln und anzupassen sind, lauten z.B. „Würden Sie sich im weitesten Sinn des Wortes als gläubigen Menschen bezeichnen?“ und „Gehören Sie zu einer spirituellen oder religiösen Gemeinschaft?“

Im pädiatrischen Kontext ist dieses Instrument allerdings nur sehr begrenzt einsetzbar. Sicher kann man Erwachsene, also die Eltern, und ältere Jugendliche nach Ihren Glaubensüberzeugungen fragen – wohl kaum aber Kinder. Dies gilt erst recht für Kinder, die sich unter „Glauben“ und „Religion“ nicht viel vorstellen können. Außerdem sind solche Fragen gerade für kleinere Kinder viel zu rational. Dann wäre Spiritualität ja vorwiegend das Besprechbare, also eine bewusst empfundene und gelebte Spiritualität. Natürlich werden manche Kinder auch religiöse Gedanken äußern oder von numinosen Erfahrungen erzählen können. Solche Situationen werden den Helfern aber sicher nicht häufig begegnen – erst recht nicht in beruflichen Alltagsbegegnungen. Die Betreuer werden eher mit den Eltern darüber ins Gespräch kommen können, was diese von ihrem Kind hören oder was sie schon mit ihm besprochen haben.

Vielleicht hören die Begleiter dann auch, was die Eltern ihrem Kind auf die Frage antworten, warum es sterben muss. Wenn sie dann zu hören kriegen „Gott holt die Kinder zu sich, die er besonders liebt“, dann muss das korrigiert werden. Oder wenn die Geschwister oder religiöse Großeltern fragen: „Warum holt Gott den kleinen Tim zu sich?“ Eine Antwort, die die Seelsorge geben kann, lautet: „Wenn dein Bruder gar nicht mehr leben kann, weil die Krankheit ihn ganz schwach gemacht hat, dann sagt Gott: Jetzt darfst du zu mir kommen, wenn du keine Kraft mehr hast, um auf der Welt zu bleiben.“

Auch Erwachsene, die ein schwerkrankes Kind betreuen, haben auch spirituelle und eventuell religiöse Bedürfnisse. Auch die Eltern und Nahestehenden brauchen eine ganzheitliche Aufmerksamkeit und Begleitung, also auch eine spirituelle. Aber auch hier gilt, sie mit dem Instrument der spirituellen Anamnese zu befragen, bringt von ihrer Spiritualität oder Religiosität nur das zutage, worüber sie Auskunft geben und was sie mit Worten benennen können.

Wenn man „Spiritualität“ aber gemäß obiger Umschreibung als bewusstes, aber viel häufiger nicht reflektiertes Potenzial an Daseinsempfinden, Glaubensvorstellungen und Sinnerfahrungen versteht, dann muss spirituelle Begleitung viel mehr als auf das explizit Benennbare auf das implizit ins Leben Eingewobene an Spiritualität achten. . Spiritualität erschöpft sich nämlich weder in konkret geäußerten „spirituellen Bedürfnissen“, noch in Fragen nach dem Sinn des Lebens noch in ausdrücklich existenziellen Themen, noch in tiefen numinosen Erfahrungen.

In einem viel weiteren Sinn ist die spirituelle Dimension in jedem Menschen anwesend als Grundmelodie, die sich aus vielen kleinen und großen Momenten der Ergriffenheit und Sinnerfahrung zusammensetzt und die sich in dem äußert, was einem Menschen zutiefst bedeutsam ist. Es ist nicht entscheidend, ob ihm dafür Begriffe wie Spiritualität, Religiosität, Sinnsuche oder Transzendenz vertraut sind. Gerade Kinder begegnen ja von Klein auf kontinuierlich und unmerklich der Lebensauffassung, dem „Geist“ ihrer Eltern, Großeltern und ihrer Umgebung. Sie lernen davon unreflektiert und bilden daran ihren eigenen „Geist“ aus und ihre Spiritualität, mit der sie das Leben verstehen und gestalten. Kinder haben ihre eigene Kompetenz bezüglich ihrer Spiritualität „und dies sogar vor dem Spracherwerb“. Am Beispiel der kindlichen Entwicklung wird besonders deutlich, dass die spirituelle Dimension nicht an das rationale Bewusstsein gebunden ist, und es daher noch andere Medien der Begleitung braucht. In abgewandeltem Sinn gilt dies für jeden Menschen, für junge und ältere Erwachsene, für bewusstseinsmächtige ebenso wie für bewusstseinseingeschränkte Patienten.

Im Folgenden werden daher noch weitere wesentliche Zugangswege Spiritulität zu aktivieren vorgestellt, die nicht nur, aber auch im pädiatrischen Berufsalltag möglich sind.

Ein erstes Medium für spirituelle Begleitung ist die Haltung, mit der die Helfer dem Patienten begegnen. Bereits die Art der Begegnung und Beziehungsgestaltung kann zwischen kleinen und großen Patienten und den Helfern andererseits spirituelle Erfahrung möglich machen. Zu diesem Modus spiritueller Begleitung gehören: Zuwendung, Achtsamkeit, Empathie, angemessene Kommunikation und Wahrhaftigkeit. Als Patient ernstgenommen zu werden, als kleiner wie als erwachsener Betroffener, kann zu einer kleinen oder großen spirituellen Erfahrung werden. Wenn man sich durch die Helfer und Behandler angenommen fühlt, ist man als Schwerkranker oder sorgender Angehöriger mehr in sich beheimatet, ist man wieder mehr Subjekt seines Lebens- und Krankheitsprozesses. – Zugleich kann der Helfer in die Begleitung seine Menschenliebe, sein Ethos, seine besten Werte, also seine Spiritualität hineinlegen. – Berufliches Handeln kann also auch für den Behandler zu einer spirituellen Erfahrung werden. Diese Art Spiritualität zu ermöglichen nenne ich „Begegnungsspiritualität“. Sie ist in der Haltung der Helfer implizit vorhanden; sie wird durch die Haltung und die Gestaltung der Begegnung aktiviert. Zu dieser Haltung gehört z.B. dass wir die Sorge der Eltern, die uns gelegentlich auf die Nerven gehen, als Liebe interpretieren. Manches ist vielleicht übertrieben und den kleinen Patienten oder uns bedrängend. Wir Helfer müssen dann aushalte, dass ein System diese Art von Balance braucht, sie schon immer so gelebt hat und dies gerade in der Krise nicht aufgeben kann. Es gilt z.B. auch den Vater zu wertschätzen, der sein Kind wenig besucht, weil er weiter das Geld für seine Familie verdienen muss.

Mit dem Hinweis auf die Haltung der Helfer erschöpfen sich viele Ausführungen über spirituelle Begleitung durch die therapeutischen Berufe. Spiritualität im Modus der Haltung ist aber nicht alles, was der Helfer als spirituelle Begleitung aufbieten kann. Die Spiritualität kann nicht alleine davon abhängen, was der Helfer an Zuwendung und Liebe selbst aufzubringen imstande ist.

Wofür das Medium Zuwendung und Liebe auf jeden Fall eine unersetzliche Quelle ist: für das Familiensystem selbst. Es gehört längst zur professionellen Begleiterkompetenz, systemisch zu denken. Das kranke Kind ist kein isoliertes Wesen und die Eltern sind keine unbetroffenen Unterstützer ihres Kindes. Vielmehr bilden alle zusammen ein System. Das ganze Familiensystem ist mit betroffen, das ganze System leidet, freut sich, bangt und hofft. Daher ist es wichtig, die Eltern zu stärken, dann ist auch das kranke Kind gestärkt. Und umgekehrt: Kinder zu stärken bedeutet auch die Eltern zu stärken. Die Angehörigen verarbeiten ja die Krankheit eines nahestehenden Patienten nicht nur emotional und sozial. In ihrer emotionalen und sozialen Einstellung ist auch ihre spirituelle Grundmelodie enthalten. Wenn sie also in ihrer Spiritualiät gestärkt werden, strahlt das auch auf das Kind, den Jugendlichen aus. Eltern wollen gerade für ihr krankes Kind alle Liebe und Fürsorge aufbringen, deren sie fähig sind. Das verspüren sie als eine wesentliche Lebensaufgabe. Die können sie aber bei unaufhaltbarer Krankheit nicht mehr auf normalem Weg einlösen, indem sie ihr Kind vor den Gefahren des Lebens beschützen. In ihre Besorgnis und ihre Fürsorge legen sie jedich sozusagen indirekt ihre Spiritualität hinein. Das sind neben einem möglichen religiösen Glauben und religiöser Praxis die spirituelle Ressourcen, die sie haben und die ihnen möglich sind. Das ist ihre „Alltagsspiritualität“ mit der sie alltäglich ihr Kind begleiten, und das Motiv für ihren Einsatz. Die können die Helfer nur sekundär und nur im Notfall ersetzen. Denn die Begleiter müssen ohne die vertraute Familiendynamik auskommen, ohne die symbolischen Quellen der Vertrautheit. – Ein Beispiel: der Seelsorger wird auf die Kinderonkologie gerufen – das Kind ist plötzlich terminal. Es ist sehr unruhig, kaum bei Bewusstsein. Alle wollen das Kind beruhigen. Da kommt endlich die Mutter und sagt: „Fritzchen, Fritzchen, ich bin doch da.“ Das sagt sie immer wieder. Und das Kind wird ruhig. Hier kommt mit der Mutter das ganze vertraute Familiensystem ins Krankenzimmer. – Das sind Quellen, die Außenstehende nicht haben. Die sind mitgewachsen; alle nennen ihn Fritzchen, die Oma, der Onkel. Da werden Stimmen mitaktiviert, Gerüche, Berührungen, Trostsituationen. Allein der Kosename hilft: „Unser Schneckchen“, „mein Maienkäfer“, das „Bärchen“. Die sind mit vielen Erinnerungen verbunden. Diese Quellen haben Fremde nicht. Im Familiensystem ist aber Spiritualität auf ganz eigene Weise enthalten.

Natürlich kann die Fürsorge der Familienangehörigen auch problematische Seiten haben. Sie ist ja auch mit Angst, Not und Trauer verbunden. Familien haben ja auch ihre problematischen Strategien und Sprüche. Deshalb braucht es Helfer, die nicht zum System gehören, wo das Kind Themen ansprechen kann, die in der Familie belastet oder tabu sind. Helfer, die manches verstehen und würdigen können, was die Kinder den Eltern nicht erzählen wollen, weil diese das belasten könnte oder die Kommunikation nicht gelingt. Es ist aber wichtig, dass die Angehörigen eine gute Zeit mit dem sterbenden Kind haben. Nicht der Helfer braucht eine gute Zeit mit dem Sterbenden, sondern diese Zeit gehört zu allererst den Intimpartnern. Das gilt es für die Helfer zu ermöglichen. Wir dürfen uns also nicht zwischen die Familie und das Kind, den Jugendlichen schieben als die besseren Begleiter. Was wir den Betroffenen abnehmen und damit wegnehmen an Intimität, weil wir meinen, so würde das Sterben besser gelingen, das fehlt denen später in der Trauerzeit nach dem Tod. Wir nehmen ihnen dann „Trittsteine“ weg, die sie in der späteren Trauer trösten können. Wir müssen vielmehr die Nähe und Fürsorge ermöglichen, die das Familiensystem braucht. Dann ist die Trauer getröstet durch so Gedanken wie „Wir konnten wenigstens noch…“. Das müssen sich die Familienangehörigen sagen können. Wir Helfer arbeiten also komplementär – wir ergänzen nur die familiären Ressourcen. Wir arbeiten nicht anstatt der Familie, sondern sie unterstützend. – Es gilt die Ressourcen zu stärken, die bereits im System sind, in der Familie, aber auch im Kind. Diese Art der Unterstützung muss zur Spiritualität der Helfer und Begleiter gehören. Und es gehört zur Spiritualität der Begleiter, die Spiritualität der Eltern in deren besten Absichten der Begleitung zu sehen, z.B. auch im Miteinander-Leben. Da wird zu Hause das Krankenbett im Wohnzimmer aufgestellt – das Kind ist Mittelpunkt des Geschehens, es darf seine vertrauten Gerüche, Spielzeuge und Kuscheltiere und bei Jugendlichen Sport- oder Fan-Artikel und Poster um sich haben.

Eine zweite Methode der spirituellen Begleitung ist ebenso wichtig wie die der Haltung und Zuwendung. Kinder geben ja auch selbst ihrem „inneren Geist“ Ausdruck. Sie lassen die Begleiter an ihrer spirituellen inneren Welt weniger durch rationale Reflexion als vielmehr in symbolischer Sprache teilhaben. Ein Beispiel: Ein Mädchen, schwerkrank, malt ein Haus, schön mit Fenstern und Türen; sich selbst malt es außerhalb. – Wie kann der Helfer damit umgehen? Man kann sich auf die Ungeborgenheit focussieren, auf das Außerhalb: „bist du alleine?“ usw. Das kann eine Brücke sein, damit sich das Kind abgeholt empfinden kann, auch mit seiner Trauer. – Aber dabei kann die Kommunikation nicht stehen bleiben. Denn jedes Defizit, jede Trennung, jede Trauer hat eine Kehrseite: Bei diesem Bild ist es die Geborgenheit, die ist ja nicht einfach verloren. Das Mädchen hat ja gerade auch das Haus gemalt, nicht eine leere Wüste. – Fragen wir als Begleiter also: „was ist alles in diesem Haus; wo ist dein Zimmer, was hast du dort gespielt – wann, wo war und wo ist es am schönsten?“ Und wenn es nichts Schönes erzählen kann, „was wäre das Schönste, was dort möglich ist, auch wenn die Krankheit nicht aufhört? Hast du da einen Wunsch an uns, wobei können wir, können deine Eltern dir helfen?“ Dieses Kind ist zugleich draußen und drinnen, in der Erfahrung des Ungeborgenseins und zugleich des Aufgehobenseins. Und wenn es sich genügend Kraft holen kann aus der Geborgenheit, dann können wir vielleicht behutsam auch die Bedrohung, das Außerhalb ansprechen.

Ein anderes Kind malt einen Weg, der in ein graues Nichts führt. Ist das nicht erschreckend für uns Helfer? Soll man dem Kind jetzt unbedingt eine positive Sicht beibringen? Oder wäre es nicht besser, zu fragen: „Gehst du alleine oder geht jemand mit dir in dieses Graue hinein?“ Oder: „Was nimmst du mit auf den Weg?“ Oder: „Du bist ganz schön stark, dass du in dieses Graue hineingehen kannst.“ Oder: „Manche Kinder haben einen Engel, der mit ihnen geht. Kannst du dir das auch vorstellen?“ – In dem Bild mit dem Haus, oder mit dem Weg ist ihre Spiritualität enthalten. – Ganz allgemein wird hier die These vertreten: Auch Kinder und Jugendliche sind kompetente Menschen. Sie haben bereits eigene Strategien, ihre Identität zu sichern und sich das Dasein in der Welt zu deuten. Jedes Kind eignet sich die Welt auf seine Weise an – kleinere Kinder weniger rational, sondern eher bildhaft, kreativ. Ein Kind redet mit einem Tier – heimlich vielleicht; oder mit seinem Kuscheltier; es hat vielleicht einen Lieblingsplatz, wo es bei Trauer, Frust oder Verlassenheit hingeht. Einen Baum vielleicht, an den es sich anlehnt, eine Figur, der es erzählt. – Fragen wir ruhig: „Hast du einen Platz, wo du am liebsten hin gehst?“ Dann wird dieser Platz, oder das Haus im Bild des Mädchens herbeigeholt – im Erzählen sind die jetzt symbolisch da. Das Abwesende ist jetzt anwesend. Die Geborgenheit des Hauses ist in der Ungeborgenheit da. Das Abwesende bekommt sogar als Abwesendes in der inneren Repräsentation einen höheren Wert, als wenn das gleich real eingelöst würde. – Das Bild des Mädchens vom Haus hatte für die Eltern auch lange Zeit nach dem Tod eine tröstliche Bedeutung in ihrer Trauer. In dieser symbolischen Kommunikation ist Spiritualität in impliziter Form enthalten. Es gilt als Helfer, in die symbolische Welt des Kindes mit hinein zu gehen und auf das Geäußerte und Gezeigte Resonanz zu geben. In dem, woran Kinder uns teilhaben lassen, ist ihre Sinnerfahrung eingewoben. Sie wird durch Erzählen und gute Resonanz des Helfers vertieft und in ihrer Ressourcenkraft verstärkt.

Die Krankheit, der Tod drohen den Menschen zu entwerten: Als Gegengewicht gilt es, Sinnerfahrungen aufzurufen. Sinngebung geschieht – erst recht bei Kindern – aber viel mehr im Erzählen, Malen, Musik-machen und Spielen als auf intellektuelle und rationale Weise. Auf solch kreative Weise versichern sich gerade Kinder ihrer Identität und eignen sich ihr Leben in der Welt an. Das hilf ihnen, auch Ängste und Gedanken an den Abschied zu bestehen. Nicht, dass ein Mensch dann keine Angst mehr vor Abschieden hätte. Aber Ängste, Sorgen und Trauer sind besser tragbar in der Kraft einer gesicherten Identität und der impliziten Erfahrung, dass sie mit eigenen Lebensinhalten zu dieser Welt beigetragen haben und die Welt, in der sie sterben, von ihnen mit belebt wurde. Kinder – erst recht religiös eingestellte – können sich dann nach ihren Sterben sozusagen „von oben“ mit den Angehörigen und Freunden in Verbindung sehen, deren Leben sie allein schon durch ihre Zugehörigkeit mit belebt haben. Zugleich können sie ihre Familie in der Vorstellung zurücklassen, dass diese ihr Kind „da unten“ bei sich wissen, weil sie bereits als Kind deren Leben bereichert und vielleicht sogar glücklich gemacht haben.

Auch das Familiensystem hat seine symbolische Welt. Da sagt ein Vater am Bett des Fünfjährigen, der im Sterben liegt: „Weißt du, erinnerst du dich an den ICE-Tunnel, wo wir oft den Zügen zugeschaut haben? Du fährst jetzt in den Tunnel – aber am Ende kommt wieder das Licht. Du kommst gut durch den Tunnel und drüben wieder heraus.“ Für die symbolische Kommunikation bedeutet dies:

  • Erstens: Das ist eine Erfahrung, die der Vater aus den gemeinsamen Erlebnissen abrufen kann. Wir als Außenstehende verfügen nicht über diese Gemeinsamkeit. Das System hat seine eigenen Ressourcen.
  • Zweitens: Begonnen hat dieses Erlebnis vielleicht mit Faszination für die Technik. Jetzt wird die Technik zum Bild, um eine existenzielle Situation zu deuten. Sie wird zum Symbol für die Spiritualität des Vaters und für die Spiritualität des Jungen.
  • Drittens: Es gilt, auf die Erfahrungen und Bilder zu hören, die die Betroffenen bereits mitbringen. Die haben Vorrang vor meiner, des Helfers, Interpretation. – Sicher kann man Kindern auch Geschichten von Leben und Tod vorlesen. Diese aber sollten als Anregung zum Gespräch dienen, nicht zur Belehrung, nicht für die Erziehung, z.B. dass das Kind loslassen soll, nicht zum Moralisieren. Geschichten wollen nicht rein zweckhaft verstanden werden. Sie sind vielmehr selbst Symbole, die einen offenen Raum anbieten, in dem der kleine Patient seine eigene Interpretation finden kann. Dann wird Spiritualität auf symbolische Weise aktiviert. Eltern werden später in der Trauerzeit für sich selbst auf solche Bilder zurückgreifen und ihr Kind darin gut aufgehoben wissen und sich in der Trauer damit trösten können.

Ein erstes Fazit: Bei der Frage der spirituellen Begleitung geht es also nicht nur um Bilder und Vorstellungen davon, was nach dem Tod kommt. Spirituelle Unterstützung findet schon auf dem ganzen Weg durch Krankheit und Sterben statt. Es gilt, dort auf Ressourcen aus dem Leben zu hören und diese nicht nur auf der Gefühlsebene zu lesen. Spiritualität erschöpft sich nicht in der Gefühlsdimension. Es geht vielmehr um Sinnerfahrungen, um Lebensvorstellungen und Erfüllungen. Natürlich haben Kinder (und Jugendliche bestimmt noch einmal anders) Vorstellungen von einem Nach-dem-Tod. Christlich sozialisierte Kinder sicher anders als agnostische, als ohne Religion aufgewachsene. Häufige Vorstellungen sind: Die Oma wiedersehen, in einem anderen Land sein, im Himmel Fußball spielen können, einen Engel an der Seite haben. Wichtig ist, dass wir mit diesen Bildern mitgehen und sie, wenn sie problematisch sind, behutsam korrigieren. Übrigens: Vertrauen wir auf die innere Kompetenz von Kindern, dass sie zur rechten Zeit Fragen stellen, die richtige Person fragen und in dem für das Kind richtigen Maß!

Nur angedeutet seien hier noch Situationen, bei denen Spiritualität wesentlich mit im Spiel ist. Auch nach dem Eintritt des Todes ist das Kind oder der Jugendliche ja noch präsent. Der Sterbende gehört auch als Verstorbener noch zum System der Familie – und das oft weit über den Tod hinaus. Wenn gerade der Tod eingetreten ist, ist das Kind mit seinem Wesen vielleicht noch intensiver da als vorher, wo vielleicht manches schwierig war oder konflikthaft. Dann sind die letzten Erfahrungen wichtig, z.B., dass man sein Kind bis zuletzt begleitet hat. Eltern sollen ihre Fürsorge bis zuletzt, auch noch nach dem Eintritt des Todes leben können. Dabei sollten wir Helfer sie unterstützen, aber es ihnen nicht abnehmen: das Herrichten, das Augen-schließen, das Waschen, Kleider anziehen. Es gilt also, die Eltern zu solchen kleinen „Ritualen“ anzuregen, sie zu fragen, ob sie das alles selbst tun wollen oder ob man es als Helfer in ihrem Namen tun soll, damit es letztlich ihre eigene Fürsorge ist, auch wenn sie an die Helfer delegiert wird. Solche Zeit für den Abschied am Totenbett – oder bevor der Sarg geschlossen wird („bevor ich dein Gesicht nie mehr sehe“) kann zu einer tiefen Quelle der Spiritualität werden. Und damit zu einer Quelle der Spiritualität für die Trauer nach dem Tod. Auch die Seelsorge hat für diesen Abschied rituelle Möglichkeiten. Und sie ist darin geschult, ihr religiöses Ritual abzuwandeln, sodass es auch für wenig bis nichtreligiöse Angehörige hilfreich und tröstend ist.

Ein wichtiges Thema der Nach-dem-Tod-Trauer der Eltern ist das Schuldempfinden. Gerade beim Verlust von Kindern und Jugendlichen scheinen Schuldgefühle fast automatisch zur Trauer der Eltern zu gehören. Diese dürfen nicht weggeredet werden. Sie sind nämlich ein Teil der Trauerverarbeitung. Schuldgefühle sind zu verstehen als nachgetragene Liebe, als nachgetragene Spiritualität. Darüber wird Verbundenheit mit dem Verstorbenen gelebt. Sonst wäre man ja ganz machtlos, sonst hätte man ja gar nichts mehr, was man dem Verlust gegenüber wirklich spüren kann. Lieber tut es in der Seele weh, als dass man sein Kind ganz verloren hätte. Schuldgefühle sind als nachgetragene Fürsorge zu verstehen, die man als Eltern ja auf normalem Weg nicht mehr einlösen kann. Später, in der Trauerbegleitung kann man dann noch andere Formen dieser nachgetragenen Spiritualität mit den Eltern zusammen suchen, so dass die Schuldgefühle nicht die einzige Form der Trauerbewältigung sind und bleiben.

Nur kurz berührt sei noch die Arbeit der Helfer. Das Sterben von Kindern geht sehr ans Herz. Da wird man auch an das eigene innere Kind erinnert, das ja ein Leben lang zu einem Menschen gehört. Das Kind, das seine eigenen Erfahrungen mit Abschied und Lebenseinschnitten gemacht hat. Es gehört zur spirituellen Hygiene der Begleiter, immer wieder auf das eigene innere Kind zu hören, seine Stimme nicht zu unterdrücken, und es zu pflegen.

Fazit: In diesem Beitrag zu „Spiritual Care“ in der pädiatrischen Versorgung wurde wenig von Gott, vom Himmel und vom ewigen Leben geredet. Das können für manche Kinder Glaubenshilfen sein. Es ist aber wichtig, Spiritualität allgemeiner, umfassender zu sehen, als den „Geist“ in allem. Der erschöpft sich weder in religiöser Begrifflichkeit, noch in Psychologie oder Sozialpädagogik. Die Spiritualität ist komplementär dazu, ergänzend zu den anderen Begleitmöglichkeiten. Spirituelle Begleitung ersetzt nicht die anderen Fachberufe. Als der innerste Sammelpunkt des Menschen ist sie das innerste Motiv bei Gefühlen, bei körperlichen und sozialen Erfahrungen. Auf diese Dimension gilt es zu achten und dem Kind und Jugendlichen und dem Familiensystem ihren innersten Geist zu glauben, aus dem heraus sie leben und auch Krankheit und Sterben bestehen können.

Literatur:

Büssing A. The suffering child: Experiences compared. Dolentium Hominum 83,2014:108-111.

vgl. z.B. Spiritual Care, Zeitschrift für Spiritualität in den Gesundheitsberufen, Themenheft Kinder und Jugendliche. 5 (4) 2016.

Riedner C., Hagen T. Spirituelle Anamnese. In: Frick E, Roser T (Hg) Spiritualität und Medizin. Stuttgart, 2009: 229-236.

Weiher E. Das Geheimnis des Lebens berühren. Spiritualität bei Krankheit, Sterben, Tod. Eine Grammatik für Helfende. Stuttgart, 4. Aufl. 2014:100.

Champagne E. Mit Kindern eine Sprache für das Geheimnis suchen. Spiritual Care, Zeitschrift für Spiritualität in den Gesundheitsberufen. 2016; 5 (4), 2016: 281-291.

Weiher E. Das Geheimnis des Lebens: 85.

Weiher E. Das Geheimnis: 112.

Smeding R, Heitkönig-Wilp M (Hg) Trauer erschließen. Eine Tafel der Gezeiten. Wuppertal, 2005.

Ritter M. Sterbebegleitung bei Kindern. Vortrag beim Internatioalen Symposium Palliativ ohne Grenzen. Meran, 2012.

Weiher E. Das Geheimnis: 369ff.