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Die Wirkung von Religion bei Krankheit und Sterben

(Arbeit mit einem Fallbeispiel)

Vorbemerkung

Was heißt Gesundheit/Heilung?

  • Heilung im medizinisch-funktionellen Sinn: Wiederherstellung des Zustandes vor der Krankheit (restitutio ad integrum). Dies ist Ziel der medizinisch-körperlichen Gesundheit.
  • Heilung kann auch Linderung sein, damit der Patient Lebensqualität bekommt (Schmerzen und andere Symptome) und er von seinen körperlichen Beschwerden nicht von anderen Lebensvollzügen (mental, psychisch, sozial, spirituell, religiös) abgezogen ist.
  • Heilung im spirituellen Sinn:
  • Im Einklang mit sich selbst sein
  • Im Einklang mit der Umwelt sein
  • Im Einklang mit seinem höchsten Prinzip sein (Gott, dem Göttlichen, Geheimnis … )

Ziel aller (auch der spirituellen) Heilungsbemühungen ist nicht nur die Wiederherstellung der Funktionsfähigkeit, sondern vor allem der Integrationsfähigkeit des Menschen, damit er auch das Brüchige und Nicht-wiederherstellbare integrieren und damit „gesund“ leben kann.

Arbeit mit einem Fallbeispiel, um zu erkennen, was eine religiöse/spirituelle Einstellung zur Integrationsfähigkeit beitragen kann.

Am Fallbeispiel sollen der Beitrag der Religion zur Verarbeitung von Krankheit und Sterben und zugleich Sinn und Wirkung von Religion erarbeitet werden.

Falldarstellung: Patient, 73 Jahre, Rentner mit intakter Familie, türkischer Kulturkreis, tiefgläubiger Moslem. Diagnose: metastasierendes ausgedehntes Recto-Karzinom.

Patient und Familie haben guten Kontakt zu ihrer Moscheegemeinde.

Station schlägt vor, den Imam einzuschalten, was der Patient und seine Familie gerne annehmen.

Zum Ablauf der „Übung“

Die Teilnehmer werden in 3 Gruppen eingeteilt, Falldarstellung vorlesen.

Erste Gruppe überlegt: Was ist wohl das (nicht unbedingt reflektierte) Interesse des Patienten, dass der Imam eingeschaltet wird?

Zweite Gruppe: Was ist wohl das Interesse der Familie … ?

Dritte Gruppe: Was ist wohl im Interesse der Station/ Einrichtung/ Begleiter, dass hier der Imam kommt?

Mögliche Ergebnisse:

Interesse des Patienten:

Besuch und Rituale geben Geborgenheit, Sicherheit, sind vertraut, Zugehörigkeit, Anerkennung, in seiner Kultur/seinen Wurzeln ernstgenommen werden, akzeptiert sein in fremder Kultur, die „Moschee“ kommt zu ihm, Heimat.

„Vertikale“ Sinngebung, höchstmögliche Sinngebung, Sinnfindung abschließen, Halt finden, Versöhnung angesichts des Lebensendes, Lebensbeichte, innerer Frieden, beten für alle, Sorge für seine Familie.

Interesse der Angehörigen:

Alles entsprechend den religiösen Vorschriften, sie haben auch spirituelle Bedürfnisse, den Patienten bestärken, Pflicht erfüllen, die Heimat herbeiholen, nimmt dem Sterben seinen Schrecken, drücken ihre Liebe dadurch aus, ist Teil ihrer Sterbebegleitung, Entlastung: auf diese Weise wird der „Tod“ kommuniziert, der Lebenskreis „geschlossen“. Brücke zum „Nachher“, der Zeit nach dem Tod/der Trauer schlagen. – Auch wenn Kinder oder Enkel nicht mit diesem Glauben verbunden sind, aus Respekt für den Vater/Großvater lassen sie sich darauf ein. Liebe und Kultur binden sie zusammen. „Gute Tat“ für religiöse Menschen.

Interesse der Station/Begleiter:

Sicherheit gewinnen in anderer als Fachdimension, Sicherheit geben können, nichts falsch machen. Imam kennt die Abläufe (er hat die Autorität, die wir nicht haben), er hat Worte und Handlungen beim Nichtsagbaren/Nichtmachbaren. Vorsorgende Trauer-Unterstützung, Trauer ist dann weniger belastet. Patienten brauchen evt. weniger Schmerzmittel.

Zufriedenheit, Respekt und Würde geben können. Entlastung in existenzieller Situation, alles dem Patienten und seiner Familie Wichtige tun können, Verantwortung in Letztsituation abgeben können, die andere Seite von Medizin/Pflege aktivieren.

Ziel dieser Übung:

Den Sinn, die Bedeutung und Wirkung von Religion allgemein erkennen, ohne dass die Fachkräfte die Inhalte/Vorschriften/Regeln/Dogmen der ihnen fremden Religion kennen müssen. Religion besteht nicht nur aus Regeln und Vorschriften. Religion „spricht die Sprache“ des Existenziellen. Nicht die Symbole selbst sind entscheidend, sondern die Erfahrung, die die Menschen damit machen d. h. die „Spiritualität“, die sie dabei erfahren. Das Entscheidende einer Religion ist ihre „Spiritualitätshaltigkeit“, nicht ihre äußeren Merkmale und Pflichten.

Erhard Weiher