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Seelsorge – das machen doch alle!?

Kompetenzen und Grenzen in Spiritual Care

Die Szene, in der kirchliche Seelsorge in Krankenhaus, Altenheim und Hospiz arbeitet, hat sich in den letzten Jahrzehnten erheblich gewandelt. Angestoßen durch die Palliativmedizin ist die Dimension „Spiritualität“ dabei, Einzug in die gesamte Patientenversorgung zu halten. Wer aber im Konzert der Professionen im Gesundheitswesen bedient diese Dimension, wenn alle ganzheitlich arbeiten und damit auch für Spiritualität zuständig sein sollen? Eine Differenzierung in Zuständigkeit und Kompetenzen in „Spiritual Care“ ist dringend notwendig – auch um der Bedeutungstiefe von Spiritualität gerecht zu werden.

Die Frage, wer für die Seelsorge im Kontext von Krankheit, Sterben, Trauer zuständig ist, musste in der Seelsorgetheorie und -praxis über eine lange Zeit nicht reflektiert werden. Schließlich hatten die Kirchen und die Seelsorge über viele Jahrhunderte die Deutungsautorität über existenzielle Fragen. Was vorher der kirchlichen Seelsorge vorbehalten war, am Kranken- und Sterbebett Leben und Schicksal aus religiösem Glauben heraus zu deuten, scheint mittlerweile durch die Dimension Spiritualität abgelöst und in die säkulare Welt abgewandert zu sein. Nach dem Konzept der Ganzheitlichkeit sollen sich alle patientennahen Berufe zugleich auch als spirituelle Versorger verstehen und entsprechende Kompetenzen erwerben. Damit bekommt die Seelsorge Konkurrenz und sie muss sich der Frage stellen, was ihr spezifisches Profil und ihr spezifischer Beitrag im Konzert der verschiedenen Berufe und Begleitangebote ist. –

In diesem Beitrag geht es daher um zwei Themen:

Erstens: Wenn hier das Spezifikum der Seelsorge in den Blick genommen wird, dann soll nicht umfänglich die Arbeitsweise der Krankenhausseelsorge dargestellt werden, wie sie sich seit Jahrzehnten bewährt hat. Es geht vielmehr um die Frage, wie sich Seelsorge auf dem Hintergrund des heutigen Diskurses um Spiritualität und „Spiritual Care“ zu verstehen und zu positionieren hat.1)

Zweitens: Wenn die spirituelle Dimension allen Helfern begegnet, welche konkreten Aufgaben kommen im Feld von Spiritual Care den verschiedenen behandelnden und begleitenden Berufen zu? Und was bedeutet es für die Seelsorge und ihre Professionalität, wenn es so aussieht, als ob ihre Kernkompetenzen auch von anderen übernommen werden können?

Zum Profil heutiger Seelsorge

Ist nicht die „Sorge um die Seele“ Aufgabe aller patientennahen Professionen? Auch die psychosoziale Begleitung, die ab den 1970iger Jahren als eine wesentliche Funktion der Seelsorge gesehen und ihr angetragen wurde, gehört zumindest im Prinzip zum Aufgabenspektrum aller Berufe. Sie ist kein Spezifikum der Seelsorge; und sie muss auch längst nicht mehr christlich motiviert sein. In der Tat haben alle patientenbezogenen Tätigkeiten eine seelsorgliche Qualität. Weil Leib, Psyche, Geist und Seele eine Einheit bilden, wirkt sich die Sorge aller Helfer auch auf die Seele aus. Denn für das Profil eines Berufs ist der spezifische Focus charakteristisch, unter dem er einen Patienten behandelt und ihm zu helfen versucht. Wenn zum fachmethodischen Handeln dann auch noch die qualifizierte Zuwendung der Fachleute zum kranken Menschen dazukommt, dann ist ihre Arbeit in einem gewissen Sinn Leib- und Seelsorge zugleich – Seelsorge allerdings in einer unspezifischen Bedeutung. Die über das spezifisch therapeutische hinausgehenden Aspekte des Patienten bleiben im alltäglichen Behandlungsbetrieb abgeblendet, solange der Patient, die Angehörigen sie nicht eigens thematisieren.

Der Focus der Seelsorge ist dem gegenüber: was einen Menschen existenziell beschäftigt und in welchem „Geist“, in welcher Spiritualität er bewusst oder weniger bewusst sein Schicksal durchlebt. Natürlich begegnet Seelsorge dem kranken Menschen in ihrer Besuchspraxis zuerst in dessen körperlichem Empfinden, seiner emotionalen, sozialen und mentalen Verfasstheit und geht auf diese empathisch-aufmerksam und wertschätzend ein. Auch das Spirituelle und Religiöse ist in der Regel nicht losgelöst vom Psychosozialen und Körperlichen zu erreichen. So geht Seelsorge in erster Linie zu Patienten, einfach, weil sie Menschen sind, und nimmt sie ganzheitlich wahr und ernst. Die erste Aufgabe der Seelsorge ist die Begegnung und die mitmenschliche Unterstützung. Dazu gehört das qualifizierte Zuhören, das bei der Seelsorge freilich anders getönt ist als bei den behandelnden Berufen. Sie hat – anders als diese Berufe – keine Diagnose und Behandlungsabsicht. Insofern beginnt Seelsorge oft ganz unspezifisch und alltäglich. Und sie bleibt eventuell auch eine Begegnung von Mensch zu Mensch. Seelsorge geht davon aus, dass es nicht unbedingt „tiefere“ und explizit spirituelle Gespräche sein müssen, damit Menschen mit ihrer Seele mehr in Kontakt kommen und in ihrem Subjektsein gestärkt werden. Auch bei den anderen Helfern können Patienten Erfahrungen dieser Art machen.

Der Spur der Spiritualität nachgehen

Die spezifische Unterstützungshilfe der Seelsorge aber ist, dass sie bewusst der „spirituellen Spur“ nachgeht, dem „Geist“, der im Lebensentwurf, im Sinnempfinden und in den Sinngestaltungen der Menschen eingewoben ist und den sie in ihren Lebenserzählungen zu erkennen geben. Es gehört zu den Grundüberzeugungen der Seelsorge, dass sie bei jeder Begegnung etwas vom Heiligen dieses Menschen erfahren darf. Der Focus der Seelsorge ist daher das ganz persönlich Bedeutsame, das „Heilige“ dieses Patienten. Dieser Spur versucht sie gerade in den Gefühlsäußerungen, den sozialen und weltlichen Bezügen und den Identitätsdarstellungen nachzugehen und nicht jenseits davon. Darin versucht sie das Potenzial zu erkunden, das zu einer spirituellen Ressource im Umgang dieses Menschen mit seiner Krankheit und seiner Lebensgeschichte werden kann. So leistet sie einen Hebammendienst eigener Art bei der Auseinandersetzung der Kranken mit ihrem Schicksal.

„Spur der Spiritualität“ heißt nicht: Seelsorge stürzt sich unmittelbar auf das Religiöse und Spirituelle. Sie macht sich nicht besserwisserisch, erst recht nicht normativ oder dogmatisch festgelegt über die Spiritualität der Menschen her, zerrt sie nicht ungebeten in den Vordergrund, urteilt nicht vorschnell, sondern geht sorgsam und verantwortungsvoll mit dem (letztlich „heiligen“) Geheimnis der Menschen um.

Was das Verständnis von „Spiritualität“ betrifft, so kann der Diskurs um Spiritual Care, der auf der Metaebene geführt wird und zu leisten ist, nicht unmittelbar auf die Mikroebene übertragen werden. Am Kranken- und Sterbebett geht es um die ganz persönliche Spiritualität der Betroffenen. Es will das Ureigene eines Menschen wahrgenommen und respektiert werden, das was er an Sinnkonstruktion und Sinnerfahrung in sich trägt. Denn damit ist er ein Leben lang bereits unterwegs; das hat er durchlebt und durchliebt, vielleicht verändert und neu probiert. Damit kommt Seelsorge in Berührung – sowohl bei tiefreligiösen wie bei alltagsagnostischen Menschen. Damit setzt sie sich ihrerseits mit ihrem spezifisch religiösen und spirituellen Potenzial hilfreich, eventuell kritisch und provozierend, aber immer sensibel und konstruktiv in Beziehung. Seelsorge sieht dabei das persönlich Heilige eines Menschen ermöglicht und inspiriert vom großen Heiligen, auch wenn sie das nicht bei jedem Patienten ans Licht hebt und zur Sprache bringt.

Was hier zunächst für die Mikroebene, die Beziehung zwischen Patient und Seelsorgendem beschrieben wurde, das gilt in abgewandeltem Sinn auch für die Meso- und die Makroebene im Krankenhaus und Medizinbetrieb.

Die spezielle Perspektive der Seelsorge ist also: Sie begibt sich auf die Spur der Spiritualität

  • von Patienten und Angehörigen, am Kranken- und Sterbebett
  • bei Mitarbeitern der verschiedenen Professionen
  • in Reflexionen über das Selbstverständnis der Berufe
  • in Themen der Fortbildung und Personalbegleitung
  • in ethischen Diskursen und Fallbesprechungen
  • im Unternehmen Krankenhaus und Medizin-System

und geht auf dem Hintergrund ihres Welt-, Menschen- und Gottesbildes in diesen Aufgabenbereichen konstruktiv in Beziehung.

So leistet Seelsorge „spirituelle Diakonie“ bei im Prinzip allen Aufgaben ihres Berufs. In diesem Sinn kann an die Stelle dieser Diakonie auch „Spiritual Care“ treten. Denn heutige Seelsorge muss begegnungsoffen für die verschiedensten Wege der Sinnsuche von Menschen sein, für Formen diesseits wie jenseits des kirchlich-religiösen Symbolsystems, auch für humanistische und säkulare Spiritualitäten. Der Umgang mit den Lebens- und Schicksalsdeutungen der Menschen ist eine anspruchsvolle hermeneutische Aufgabe – erst recht in einer Zeit, in der es keine allgemein geteilten Sinnsysteme mehr gibt.

Eine Querschnittsaufgabe? Es gilt zu differenzieren.

Die spirituelle Dimension ist aber seit wenigen Jahrzehnten nicht mehr ausschließlich der Seelsorge vorbehalten (wenn sie es denn je war). Spiritual Care ist zweifellos eine Querschnittsaufgabe aller Disziplinen im Gesundheitswesen. Aus dieser Aufgabenstellung erwächst aber die Frage, welche Profession im Einzelnen für Spiritual Care zuständig und befähigt ist, wo deren jeweilige Möglichkeiten, aber auch Grenzen liegen. Eine Klärung der Zuständigkeiten steht weitgehend noch aus. – Um dieser Frage nachzugehen, muss zunächst in den Blick genommen werden, was als charakteristisch für Spiritual Care gilt.

Spiritualität im Modus der Haltung

In vielen Erörterungen über die Rolle der Spiritualität in der beruflichen Arbeit wird diese Dimension vorwiegend in der Haltung der Helfer und in ihrer spirituellen Grundeinstellung gesehen. Spirituelle Begleitung geschieht danach in Form der inneren Einstellung und Motivation mit der die Professionellen den Patienten begegnen und aus der heraus sie ihre Arbeit verstehen. So gesehen heißt Spiritual Care: „mit Liebe, Achtsamkeit und Respekt umsorgen“. Diese Art von spiritueller Begleitung ist natürlich eine Möglichkeit und Aufgabe aller Berufe und begleitend – z. B. ehrenamtlich – Tätigen. Die Befähigung und Fortbildung zu dieser Form spiritueller Begleitung hat zum Ziel, die eigene Erschlossenheit für die spirituelle Dimension zu fördern, aber auch zwischen eigener Spiritualität und der des Anderen zu unterscheiden, um nicht eigene Vorlieben und Abneigungen auf den Klienten zu übertragen. Die Frage, wie weit Haltung und innere Einstellung geschult werden können und ob ein berufsübergreifender Konsens über Spiritualität möglich ist, muss dabei offen bleiben. Eine Basisverständigung ist sicher über „Menschenliebe“, „Achtsamkeit“, „Würde“, „Toleranz“ möglich.

Wenn die berufliche Begegnung durch Liebe und Achtsamkeit qualifiziert ist, kann sich sehr wohl spirituelle Erfahrung auch beim Begleiteten ereignen. Der Patient kann tiefer bei sich ankommen und es können „heilige“ Momente auf beiden Seiten entstehen: Spiritualität im Modus der Begegnung.

Wie Spiritualität ins Gespräch kommt

Über die Frage der eigenen beruflichen Haltung hinaus muss jedoch erörtert werden, wie man Zugang zu den spirituellen Bedürfnissen der Klienten finden und wie man Spiritualität kommunizieren kann. Bei dieser Frage muss eine wichtige Unterscheidung vorgenommen werden: die zwischen „expliziter“ und „impliziter“ Spiritualität. Wenn unter Spiritualität eines Patienten seine konkrete Zugehörigkeit zu einer spirituellen oder religiösen Gemeinschaft verstanden wird, oder er bei einem Helfer durch Zeichen und Symbole oder konkrete existenzielle und spirituelle Aussagen seine Einstellung zu erkennen gibt, dann lassen sich entsprechende Bedürfnisse weiter eruieren und erörtern. Dem versucht ja auch die „spirituelle Anamnese“ gerecht zu werden, die vor allem vom medizinischen Personal vorgenommen werden soll. Es ist sicher gut, dass Ärzten und Pflegenden ein solches Instrument an die Hand gegeben wird, damit die spirituelle Dimension überhaupt ansprechbar wird und dem Patienten entsprechende Signale gegeben werden.

Eine wichtige Frage ist mit der spirituellen Anamnese aber nicht beantwortet: wer mit welcher Kompetenz mit den erfragten Themen umgehen kann. Dieses Konzept setzt voraus, dass die spirituelle Dimension durch Patienten in benennbarer und durch die Helfer in identifizierbarer Form auftritt: als explizite Spiritualität. Es ist aber eine wichtige Erfahrung der Klinikseelsorge, dass die Spiritualität eines Menschen in der Begegnungspraxis weit häufiger in impliziter als in expliziter Form anzutreffen ist.2) Ihren „inneren Geist“ lassen Menschen in ihren Lebens- und Identitätserzählungen erkennen, auch wenn sie von sich aus dafür nicht den Begriff „Spiritualität“ verwenden.

Spiritualität in expliziter – aber viel häufiger in impliziter Form begegnet allen Helfern. Hier braucht es eine gute Wahrnehmungsfähigkeit, um dieses spirituelle Potenzial nicht nur zu erkennen sondern es durch qualifizierte Resonanz zu einer Ressource werden zu lassen. – Dies gilt auch für die Rolle der Spiritualität in der Ethikberatung.3)

Kompetenz und Rolle

An dieser Stelle der Diskussion muss auch der Begriff der Kompetenz erläutert werden. Zur Kompetenz gehört mehr als in der üblichen Definition genannt wird, mehr als „Wissen, Fertigkeiten, Haltung“. Gerade in Spiritual Care ist ein Faktor entscheidend: das Bewusstsein von und der Umgang mit der Rollenwirkung und der Felddynamik, die mit der beruflichen Rolle verbunden sind. Jeder Beruf hat neben seinem funktionalen auch einen symbolischen Anteil. Den medizinischen Berufen vertraut sich der Kranke nicht nur mit seiner Körperlichkeit an, sondern damit letztlich auch mit seiner ganzen existenziellen Verfasstheit. Mit ihrem Wissen um den medizinischen Status eines Menschen werden die Professionellen zugleich zu Zeugen für dessen existenzielles Schicksal, für Heilungsmöglichkeiten, aber auch Grenzen dieses Lebens. Damit haben alle versorgenden Berufe für Patienten und Angehörige eine hohe Bedeutung nicht nur bezüglich des medizinischen Status, sondern auch für die spirituellen Einstellungen, die diese implizit in ihrer Lebensleistung, ihren Lebensrollen, ihren Identitätssymbolen und Wertvorstellungen zu erkennen geben. Sie haben eine über das Private hinausreichende menschheitliche Rolle. Damit verfügen sie über eine Rollenkraft, die die explizite wie implizite Spiritualität potenzieren und zu einer Ressource der besonderen Art werden lassen kann. Der Unterschied zwischen der Seelsorge und anderen Berufen (z.B. auch Psychotherapie und -onkologie) liegt vor allem im Sinnhorizont, in dem jede Profession zuhört, Resonanz gibt und würdigt. Seelsorge würdigt durch ihre Rolle immer – aber nicht immer explizit – im Horizont eines transzendenten Heiligen: vor Gott und von Gott her. Die Würdigung der anderen therapeutischen Berufe geschieht dagegen in einem menschheitlichen Horizont – und das ist nicht wenig.

Unterscheidungen: was heißt das konkret?

Zuständigkeiten mehrstufig sehen

Alle Professionen haben es im beruflichen Alltag mit der expliziten, aber viel häufiger mit der impliziten Form von Spiritualität zu tun. Ebenso können sie aber auch schwierigen existenziellen Fragen und spirituellen Problemen begegnen. Es braucht also ein mehrstufiges Kompetenzmodell.

  1. Stufe: Für die spirituelle Dimension aufmerksam sein und den Patienten spüren lassen, dass seine Fragen und Themen „angekommen“ sind, das gehört zur Grundkompetenz aller Helfer – auch der Seelsorge. Es gilt dabei, die Betroffenen durch mitmenschliche Begleitung – also eher implizit – zu stärken. Sie sollten erfahren, dass sie mit ihren Fragen und Sorgen nicht einsam sind.
  2. Stufe: In der Literatur wird als weitere Kompetenzstufe die spirituelle Anamnese und das „Spiritual Screening“4) genannt. Die Frage, ob dabei wirklich die tiefempfundene Spiritualität erfasst wird und ob beim anfänglichen Screening mitbedacht wird, dass Spiritualität einem Prozess unterliegt und Patienten nicht gleich als spirituell problembehaftet und damit behandlungsbedürftig eingestuft werden können, ist und bleibt hier höchst diskussionswürdig.
  3. Stufe: Alle Helfer brauchen eine hohe Sensibilität nicht erst für die explizite, sondern besonders auch für die implizite Spiritualität, die in die biographischen Erzählungen eingewoben ist. Sie können auf der Basis ihrer Rollenübertragung durch eine qualifizierte Resonanz dem Patienten helfen, sich seiner spirituellen Ressourcen bewusst zu werden. Dies ist ein niederschwelliger Weg der spirituellen Begleitung, der den Möglichkeiten der Professionen im Berufsalltag entspricht und sie nicht in ihrer Kompetenz überfordert. – Die Aufgabe der professionellen Seelsorge geht darüber hinaus: Sie versteht es, auf die „Alltagsspiritualität“ vertiefend einzugehen. Ihre Kunst ist es sogar, mit dem Patienten zusammen seine „Spiritualität erster Ordnung“ auf eine „Spiritualität höherer Ordnung“5) hin zu erschließen. Die Erschließungskompetenz ist spezifisch für die Seelsorge-Profession.
  4. Stufe: Auch schwierige existenzielle Fragen und komplexe spirituelle Themen müssen nicht gleich als behandlungsbedürftige „spirituelle Schmerzen“ eingestuft werden. Die Nichtseelsorger müssen dabei entscheiden, ob diese im Container ihrer Berufsrolle aufgefangen und aufgehoben sind, ohne dass sie beantwortet oder bearbeitet werden müssen – ob also das wertschätzende rollenunterstützte (!) – Zuhören genügt, oder ob die Probleme anhaltend so krisenhaft und kompliziert sind, dass sie an die primär für Spiritual Care Verantwortlichen zu delegieren sind.

Therapeutische Berufe als professionelle Seelsorger?

Diskussionsbedürftig sind die Bemühungen, Angehörige therapeutischer Berufe als ausdrückliche Seelsorger weiterzubilden. Zu bedenken ist dabei die nicht zu unterschätzende Gefahr der Rollenvermischung: der Patient weiß nicht, wo er gerade dran ist. Als Mediziner, Pflegende, Physiotherapeuten muten sie dem Patienten auch schmerzhafte Eingriffe zu; sie beobachten nach fachlichen Behandlungskriterien, intervenieren allein schon durch ihre Diagnosen. Auch die Pflege gehört zum medizinischen System (z.B. Altenpflegerin: „Wir müssen noch mal die Blutwerte…“, „Sie müssen mehr trinken“. – Wenn Sie als Seelsorgerin auftritt: „Sie müssen weitere Behandlungen nicht akzeptieren“, „wenn Sie nichts mehr essen und trinken wollen, ist das auch okay“). Es muss auch Begleiter von außerhalb des Systems geben, denen sich der Patient anvertrauen kann (Seelsorger in der Psychiatrie: „Vor mir sind Sie sicher“). Der Patient und Heimbewohner kann sich bei der Seelsorge, die von „außerhalb“ kommt, freier fühlen, und seine eigenen Vorstellungen entwerfen. – Andererseits hat die spirituelle Kommunikation durch die therapeutische Fachrolle für den Patienten ein hohes Gewicht. Wenn also die (Alten-) Pflegerin in der Berufssituation (z.B. Bewohnerin weint) einen Menschen in den Arm nimmt, ein Gebet oder ein Gutenachtlied anbietet, dann ist das aufgrund der geteilten Situation und der Rolle hochwirksam. Das ist dann seelsorgliches Handeln, das in den Beruf integriert und nur von daher wirksam ist. Es bleibt aber pflegerisches, ärztliches, therapeutisches Handeln, allerdings erweitert um einige seelsorglich-spirituelle – aber rollenbasierte – Möglichkeiten.

„Spiritualität – dafür brauchen wir keine Seelsorge“

Manche Hospiz- und Palliativdienste beanspruchen, der spirituellen Dimension ganz ohne Seelsorge gerecht werden zu können. Das darf bei dem heutigen Verständnis von Spiritualität nicht verwundern. Es gibt ja auch unterschiedliche Gründe, weshalb manche ganz auf kirchliche Dienste verzichten. – In den Kliniken und Krankenhäusern freilich trauen die anderen Professionen die ausdrückliche spirituelle Begleitung immer noch weitgehend der kirchlichen Seelsorge zu und delegieren an diese.

Zur Kompetenz der Ehrenamtlichen

Was ist die Kompetenz ehrenamtlich Engagierter, die im Auftrag der Fachseelsorge und mit einer kirchlichen Sendung Patienten besuchen? Ihre Professionalität besteht in ihrer Kompetenz für das Mitmenschliche und Alltägliche. Sie sind kommunikativ gut geschult, gehen aber nicht methodisch bearbeitend oder deutend und vertiefend mit der Spiritualität um. Ihre Professionalität beruht auf ihrer reflektierten Lebenserfahrung und Mitmenschlichkeit. Weil sie gelernt haben, die Erfahrung des eigenen Schicksals von der des Patienten zu unterscheiden, können sie sich – in der Regel unausgesprochen – als Resonanzinstrument zur Verfügung stellen. Ehrenamtliche haben ihren persönlichen Glauben reflektiert und können ihr Glaubenszeugnis angemessen in Beziehung bringen in Dialog, Gebet und Segen. Als kirchlicher Besuchsdienst haben Ehrenamtliche eine wichtige, die Fachseelsorge ergänzende und sie erweiternde Funktion. Schließlich wollen (und brauchen) bei weitem nicht alle Patienten in Krankenhaus, Altenheim und Hospiz professionelle Seelsorge. – Viele Besuchsdienste möchten gar nicht als professionelle Seelsorge gesehen werden, sondern sich mit ihrer eigenen Kompetenz Kranken und Sterbenden zur Verfügung stellen.

Andere Religionen und Spiritual Care

Vertreter anderer Religionen besuchen Patienten aus ihrer eigenen religiösen und kulturellen Welt. Da haben sie in Weisheitsworten und Ritualen eine autoritative Kraft und Trostwirkung, die nicht von religionsfremden Seelsorgern übernommen werden können. In der Regel verfügen sie aber (noch) nicht über die Kompetenz, die kirchliche Seelsorge erworben hat, die also pastoral-psychologisch geschult ihre Begleitung kultur- und religionssensibel anbietet. Christliche Seelsorge beruht zudem auf einem reflektierten und humanwissenschaftlich verantworteten Menschen- und Gottesbild, wie das andere Religionsvertreter (noch) nicht vorweisen können.

Fazit:

Seelsorge muss sich mit ihrer ureigenen Rolle in Spiritual Care neu und vertieft auseinandersetzen – und dies mit konstruktivem Interesse und nicht, wie das vielfach zu beobachten ist, defensiv. Spiritual Care ist inzwischen eine Aufgabe, die allen Berufen obliegt. Zugleich aber gilt: nicht jede Profession muss und kann alles können. Der Ausspruch „Seelsorge (oder Spiritual Care) – das machen doch alle“ führt zu einer Überforderung der Nichtseelsorger und zu einer Verflachung der spirituellen Dimension. Es gilt zudem, Kranke – und damit sehr verletzliche Menschen – nicht nur vor klerikaler Pastoralmacht, sondern auch vor amateurhaften und privaten spirituellen Überzeugungsversuchen und Schicksalsdeutungen zu schützen. Die Fach-Seelsorge arbeitet mit professionellem Handlungswissen, mit reflektierter Anthropologie, reflektierter Theologie und Spiritualität. Kirchliche Seelsorge repräsentiert immer noch die höchstdenkbare Transzendenz und damit die ganze Tiefe des Heiligen und Absoluten. So sind sie Dialogpartner für letzte Fragen und umfassenden Sinn. Sie stehen für ein Heilsversprechen, das nicht durch Empathie und Beziehung einzulösen ist. – Seelsorge ist eine eigenständige Profession, deren Kernkompetenz weder durch die Spiritual Care-Aufgaben der anderen Versorger noch durch ehrenamtliche Begleiter zu ersetzen ist. Es wäre ein Verlust für eine Gesellschaft und das Gesundheitswesen – und letztlich für die Kirchen – wenn eine unspezifische Seelsorge an die Stelle des Fachberufs treten würde. Wenn also die „Spur der Spiritualität“ nicht mehr explizit verfolgt und Spiritualität und Religiosität höherer Ordnung aus dem Blick verschwinden würden. Das wäre, als ob es die geschichtliche Entwicklung von der Verkündigung bzw. Sakramentenversorgung über die Psychologisierung zur spirituellen Begleitung nicht gegeben hätte. Die Sinntiefe der Spiritualität und des Religiösen würde verloren gehen. Professionelle Seelsorge ist allerdings nicht exklusiv für Spiritual Care zuständig. Sie versteht sich als Profession, die mit ihrem spezifischen Focus und eigener Rollenübertragung komplementär ein unverzichtbares Instrument im Konzert der anderen Berufe im Gesundheitswesen zur Verfügung stellt.

Anmerkungen

  1. Zur Diskussion um Spiritual Care ausführlich: Doris Nauer, Spiritual Care statt Seelsorge? Stuttgart 2015; Birgit Heller/Andreas Heller, Spiritualität und Spiritual Care, Bern 2014; Eckhard Frick/Traugott Roser (Hg.) Spiritualität und Medizin, Stuttgart 2009.
  2. Erhard Weiher Das Geheimnis des Lebens S. 100
  3. Erhard Weiher, Die Bedeutung der Spiritualität bei Gewissensentscheidungen, in: Franz-Josef Bormann und Verena Wetzstein (Hg.) Gewissen, Berlin, Boston 2014, 617 – 631.
  4. Christina Puchalski et al., Improving the Quality of Spiritual Care, as a dimension of Palliative Care: The Report of the Consensus Conference. Journal of Palliative Medicine (2009 Vol 12,10) 885 – 904.
  5. Erhard Weiher, Das Geheimnis S. 142ff.

Literatur:

Erhard Weiher, Das Geheimnis des Lebens berühren. Spiritualität bei Krankheit, Sterben, Tod. Eine Grammatik für Helfende. Stuttgart 4. Auflage 2014.