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Religion, Spiritualität und Trauerbegleitung – vor, bei und nach dem Tod

Es gibt eine Wiederkehr der Spiritualität im Kontext von Sterben, Tod und Trauer. Warum ist das so? Allein in den 25 Jahren meiner Arbeit in der Universitätsklinik, hat sich die Art, wie Menschen auf ihr Sterben zugehen, gewandelt. Die Entwicklungen in Medizin und Krankenversorgung bestimmen ja nicht nur die physische Dimension des Menschen, sondern auch den „Geist“, das Bewusstsein, in dem Menschen krank sind und den Geist, in dem sie sterben. Die meisten von uns hier überblicken – grob gesagt – 50 Jahre, in denen sich das Erleben von Krankheit und Sterben gewandelt hat. Die Lungenentzündung war noch vor 100 Jahren die „Freundin des alten Mannes“, weil sie ihn von den Gebrechen des Alters erlöst hat. Lungenentzündung, Nierenversagen, Herzschwäche – die sind heute behandelbar: der Tod kann weit hinausgeschoben werden. Das hat natürlich auch Auswirkungen auf das Trauererleben sowohl der Patienten wie auch ihrer Angehörigen und letztlich auch auf das Rollenverständnis der Angehörigen der Gesundheitsfachberufe.

  1. Auf der Suche nach einer Auffangdimension für die Trauer

Um verstehbar zu machen, wie sich der Umgang mit schwerer Krankheit und Sterben verändert hat und welche Instrumente im Umgang mit Sterben, Tod und Trauer die Menschen im Lauf der Zeit zur Verfügung hatten, soll hier eine kurze historische Skizze am Anfang stehen. Sie folgt dem englischen Medizinsoziologen Tony Walter 1. Er hat die Bewältigungsstrategien bei schwerer Krankheit,Tod und Trauer untersucht und dabei drei Epochen herausgearbeitet.

    1. Die traditionelle Zeit

Über eine lange Zeit der Menschheitsgeschichte gab es kaum eine Medizin gegen schwere Krankheiten. Die Hauptunterstützung beim Sterben geschah durch die Religion. Sie war zuständig für die Deutung des Schicksals. Und Deutung, also Sinngebung, ist ein wichtiges Bewältigungsmittel. Die Medizin war mehr oder weniger „Palliativmedizin“; sie hat versucht zur Linderung beizutragen, den Tod aber nicht aufhalten können.

Die Religion, die Gemeinschaft, die Nachbarschaften, die Kultur haben Räume bereit gestellt, in denen man gemeinsam Sterben, Tod und Trauer erleben und begehen konnte. Es gab Orte, Zeiten, Rituale, Bräuche und begleitende Zeichen, die geholfen haben, die Brüche im Leben zu integrieren. Allerdings sind die Verarbeitungsmöglichkeiten jener Zeit – nicht nur medizinisch, sondern in gewisser Hinsicht auch religiös gesehen – nicht zu vergleichen mit den heutigen: Menschen litten oft unter schweren (auch spirituellen) Schmerzen und sind schreiend gestorben. Die Trauer selbst wurde über die gesellschaftlichen und religiösen Hilfen hinaus nicht eigens in den Blick genommen. Nach dem Verständnis dieser Epoche genügte, dass sie irgendwie getragen wurde und durch strenge Vorgaben wie man sich zu verhalten hatte, in das gesellschaftliche (und damit auch religiöse) Leben eingebettet und damit aufgefangen war.

    1. Die Zeit der Moderne

Bereits um die Mitte des 19. Jahrhunderts begann in der westlichen Welt (in Europa) eine deutliche Umorientierung der Medizin hin zu naturwissenschaftlich basiertem Denken und entsprechenden Konzepten. Diese Entwicklung führte im Lauf des 20. Jahrhunderts zu immer größeren Erfolgen im Kampf gegen vorher unheilbare Krankheiten. Durch immer neue wissenschaftliche Entdeckungen und medizinische Techniken entstand zunehmend der Eindruck, alle biologischen Funktionen des Menschen seien durchschaubar und damit behandelbar. Die traditionelle Sicht auf das Schicksal des Menschen und die „Methode“ der Religion schien überflüssig. Man glaubte, alle Fragen des Lebens ließen sich mit instrumenteller Logik angehen und auf absehbare Zeit auch lösen. Infolge der Dominanz dieser Logik wurden andere Sicht- und Bewältigungsweisen in den Hintergrund gedrängt. Was sich in der wissenschaftlichen Medizin bereits angebahnt hatte, wirkte sich immer mehr auch auf den Umgang mit Krankheit und Sterben und auf die Begegnung mit Kranken und Sterbenden aus.

Zugleich mit dem Erstarken der Medizin hat sich die Religion immer mehr ins Jenseits zurückgezogen. Dadurch entstand ab Mitte des 20. Jahrhunderts zunehmend eine Lücke im Umgang mit dem Sterben und der zugehörigen Trauer: Weder die Medizin noch die Religion verfügten über eine Sprache für das Sterben als Sterben, als Trauerprozess. Damit geriet die existenzielle Bewältigung des Sterbens und der Trauer immer mehr aus dem Blick der medizinischen Fachleute und der Gesellschaft. Sie wurde zur Privatsache.

    1. Der Weg in die Nachmoderne

Ende der 1960iger Jahre begann eine neue Entwicklung mit der Hypothese von „Sterbephasen“ durch Elisabeth Kübler-Ross. Mit der Popularisierung der Psychologie kam die psychische Seite des Sterbens wieder ins Bewusstsein – „wieder“, denn gewusst hat das die Menschheit schon immer, nur war die Sprache dafür verloren gegangen. Die Kultur, auch die religiöse Kultur, in die vorher die Widerfahrnisse des Schicksals eingebettet waren, wurde als Auffangstruktur zunehmend brüchig. Mit den sogenannten „Sterbephasen“ hat die Psychologie – jetzt zusammen mit der Medizin – die Deutungshoheit über das Sterben übernommen. Das führte zu der Vorstellung: das Körperliche macht die Medizin, für den inneren Prozess des Menschen hat die Psychologie die besten Methoden. Immerhin wurde durch die öffentlichkeitswirksame Arbeit von Kübler-Ross eine Tür aufgemacht: das Sterben wurde zunehmend als gesellschaftlich wichtiger Prozess (wieder) entdeckt. Bestand Kübler-Ross noch sehr auf einer Humanisierung der Medizin, indem das Schweigen aufgehoben werden sollte, fing Cicely Saunders zur gleichen Zeit an, den Prozess rundum das Sterben als „ganzheitlich“ zu konzipieren und mittels empirischer Forschung auch zunehmend zu belegen. Im Gefolge dieser Entwicklung kamen neben der medizingestützten körperlichen und der psychologischen (das Gefühls-, Motivations- und Willensrepertoire, das die Psychologie beschreibt) noch andere Dimensionen des Menschen in den Blick, in denen er unterstützt werden kann und muss. Seit den 1990iger Jahren nennt die Weltgesundheitsorganisation, im Gefolge der ursprünglich von Saunders postulierten Ganzheitlichkeit, in ihren Standards bezüglich der Sorge um Sterbende zur körperlichen, psychischen und sozialen auch die spirituelle Dimension. Die Wahrnehmung und Begleitung aller dieser Dimensionen ist auch Basis der Palliativ- und Hospizversorgung: Das Sterben muss ganzheitlich gesehen werden. Das ist bei der Trauer nicht anders. Auch Trauernde haben es verdient, ganzheitlich begleitet zu werden.

„Trauer“ ist nicht nur eine Emotion, erst recht nicht per se eine psychische Störung. Trauer ist ein höchst existenzieller Prozess. Und auf „Existenz“ antwortet „Spiritualität“ als hilfreiches Widerlager zur existenziellen Bedrohung, als Gegengewicht, das die existenzielle Herausforderung auszubalancieren versucht. – Das ist ja auch eine Frage für die Begleiter: Wem, welcher Auffangstruktur können sie den Sterbenden mit seinem Leid als Leid, nicht nur mit den körperlichen Schmerzen, sondern mit dem Autonomieverlust, mit dem Weniger werden, mit der Bedrohung der ganzen Existenz anvertrauen? Gibt es eine Sprache und gibt es Räume, die es gestatten, diese Erschütterungen zu begehen? – Auf der Suche nach Auffangmöglichkeiten bietet sich ein eigentlich altes – aber in der Nach-Moderne neues – Wort an: „Spiritualität“ als Kraftquelle für die Betroffenen. Spiritualität ist aber nicht nur eine Ressource, die sozusagen von außen, also von spirituellen und religiösen Systemen, an den Patienten und Klienten herangetragen werden muss. Es ereignet sich vielmehr auch spirituelle Erfahrung, die die Betroffenen in der Trauer selbst machen2. Wenn das „Loch zur Quelle wird“3 können spirituelle Erfahrungen eigener Art entstehen, die dann ihrerseits wieder zu wichtigen Ressourcen auf dem Trauerweg werden können. – Im Folgenden wird eine „Logik“, ein Verstehensmodell für die spirituelle Dimension entwickelt und danach eine „Agogik“, also Zugangswege, um diese Dimension in der Begleitung zugänglich und erschließbar zu machen.

  1. Wie ist Spiritualität heute zu verstehen?

Der Begriff „Spiritualität“ war lange Zeit nur in der religiösen und kirchlichen Sprache beheimatet. Aber seit einigen Jahrzehnten ist er über die Grenzen der Religion hinausgewandert und scheint sogar gänzlich in die säkulare Welt hinübergewandert zu sein. Viele Menschen gehen heute davon aus, dass Spiritualität nur außerhalb der überkommenen Religionen zu finden sei. Der Begriff ist also umstritten; er wird vielfältig verwendet als „Container“ der „alles“ enthält: Verbundenheitsgefühle, Erhabenheit, Ergriffenheit, Kirche, Religion, Lebenshaltung, Transzendenzvorstellungen usw. Er gilt aber auch als Schlagwort für „nicht-kirchlich“, „nicht-christlich“. Gegenüber dieser einseitigen Verwendung sei gesagt: es gibt religionsunabhängige aber genauso gut religionsbezogene Formen und Verständnisse von Spiritualität.

Um allen möglichen Formen spiritueller Erfahrungen gerecht werden zu können, sei hier definiert – zunächst ganz formal und noch abstrakt:

„Spiritualität ist der ‚innerste Geist‘ in einem Menschen, aus dem heraus er sein Leben versteht, es gestaltet (reflektiert oder unreflektiert) und mit dem er auch in Krankheit, Sterben und Trauer hineingeht.“

Diese Umschreibung ist noch sehr unspezifisch, aber sie hat einen Vorteil:

  • sie ist für die Begleitung von Menschen in Krankheit, Sterben und Trauer praxistauglich, gerade weil sie zunächst noch ganz offen ist und nicht auf Religion festgelegt – oder auf ‚Sinnsuche‘, als ob „Sinn“ immer bewusst und zielgerichtet gesucht würde und als klares Konzept zu finden sei.
  • Ein zweiter Vorteil ist: Diese Umschreibung enthält die Prämisse: Jeder Mensch hat eine spirituelle Dimension; kein Mensch ist unspirituell.

Die Erfahrung in der Kranken- und Sterbebegleitung zeigt: Auch Atheisten, auch Humanisten, Agnostiker sind nicht per se unspirituell. Begleiter sollten jedem Menschen einen innersten Geist glauben, aus dem heraus dieser (bewusst oder nicht bewusst) sein Leben versteht und entwirft – und mit dem er auch Krankheit und Trauer begegnet. – Im Unterschied zu „Spiritualität“ ist „Religion“ eine gefasste Form von Spiritualität – ein System von Symbolen, Ritualen, Werten und Ideen, das von einer Gemeinschaft geteilt wird. – „Spiritualität“ wird demgegenüber offener und unspezifischer gesehen; damit fühlen sich auch Menschen verstanden, die keiner Religion angehören, oder die sich davon distanzieren oder die ganz eigene, unabhängige Wege der Sinnsuche und Lebensorientierung gehen. Religion und Spiritualität sind Möglichkeiten, wie Menschen mit dem „Heiligen“ in Beziehung kommen können und wie diese Beziehung strukturiert und gepflegt werden kann.

  1. Die „Mitte“ als Raum für Spiritualität

Jetzt ist natürlich die Frage, wie Spiritualität und Religion bei der Trauerbegleitung ins Spiel kommen können. Zunächst ist die Trauer ja ein existenzielles Geschehen. Für diese existenzielle Dimension hat Ruthmarijke Smeding ein anthropologisches Verstehensmodell entwickelt – die „Gezeiten der Trauer“®. Dabei bleibt die Spiritualität zunächst im Hintergrund. Aber sie wird als der ‚innerste Geist‘ im Menschen durch Sterben und Tod in Mitleidenschaft gezogen: Verluste reichen ja nicht nur in die psychische und soziale Dimension, sondern auch in das Innerste des Menschen; sie reißen ein ‚Loch‘ auf. „Da bin ich in ein Loch gefallen“, sagen Trauernde selbst – „alles war auf einmal leer, da wurde mir der Boden weggezogen“. In Smedings Modell „Trauer Erschließen“ gibt es deswegen eine Mitte. Diese ist im Modell freigeblieben – als Symbol für die Existenzialität dieses Ereignisses. Wie tief das Loch für einen Menschen ist, das kann man von außen nicht ermessen; über die Existenzerfahrung kann man nicht methodisch verfügen. „Dann vergessen Sie Ihren verstorbenen Vater doch einfach“ hat ein Therapeut der trauernden Tochter ein halbes Jahr nach dessen Tod gesagt. Gottseidank ist ein solcher Rat heute selten. Die Mitte istetwas Heiliges. Das ist eine Stärke von Smedings „Gezeitenmodell“. In dieser Mitte passiert ja auch etwas und damit auch in der Spiritualität eines Menschen, in seinem Lebensverständnis, in seiner Seele. Dieses Innerste kann in den Vordergrund kommen, die existenzielle und spirituelle Erfahrung kann Thema werden – bei allen Begleitern, nicht nur bei der Seelsorge. Dann flippt sozusagen das Innere nach außen: was vorher im Hintergrund war, kommt in den Vordergrund. Zugleich ist die Trauererfahrung mit Januszeit ® und Labyrinth-Zeit® damit ja nicht weg. Das Trauererleben „funkt“ sozusagen in die Spiritualität hinein und die Spiritualität „funkt“ auf das Trauererleben zurück. Die spirituelle Dimension kann also nicht losgelöst vom Trauerweg zur Wirkung kommen; sie muss mit dem Trauererleben in Beziehung bleiben und Schritt halten. Es gibt auch keine religiöse oder spirituelle Strategie, die das „Loch“ zumachen könnte. Religiöse Sprüche oder spirituelle Weisheiten helfen in den seltensten Fällen, wenn sie dem Trauererleben entgegengehalten werden, wenn Religion eine Mauer dagegen bauen soll. Das beklagen ja Trauernde oft. Es gibt keine spirituellen Antworten, die die Trauer überflüssig machen oder vertreiben würden. Also auch bei spiritueller und religiöser Begleitung muss die Anthropologie stimmen. Auch Rituale schließen das Loch nicht einfach, wie viele, auch Smeding, der Religion immer wieder hinter die Ohren schreiben. Rituale gestatten aber, die existenzielle Erfahrung bei den Verlustereignissen zu begehen. Das Loch in der Mitte ist in dieser Hinsicht kein leeres Nichts, es ist darin auch oft – so die Konzipierung des Modells – eine Quelle verborgen, die sich aber erst auf einem oft schweren und langen Weg erschließt. – Die Frage ist also: wie kann man Trauernde in diesem Wandlungsprozess vom Loch zur Quelle unterstützen – und zwar nicht nur psychosozial, sondern auch spirituell und religiös?

  1. Methoden der spirituellen Unterstützung

Wie geht das – Spiritualität in der Trauerbegleitung hilfreich ins Spiel zu bringen? Ich möchte die spirituellen Begleitungsmöglichkeiten auf die drei Trauersituationen beziehen, die Smeding als „Triptychon der Trauer“ 4 beschrieben hat. Trauer beginnt ja nicht erst nach dem Tod. Schon die Zeit schwerer Krankheit und das Sterben sind mit Trauer verbunden („Sterbetrauer“) – beim Patienten und bei den Zu- und Angehörigen. Durch den Tod wird sie dann voll ausgelöst („Todestrauer“) und dauert für die Zurück- und Hierbleibenden weit über den Tod hinaus, in die Zeit des Weiterlebens hinein („ Weiterlebetrauer“). (siehe Kapitel xx) Trauer ist also als Gesamtprozess zu verstehen. Die Konzepte der Palliative Care sehen den Gesamtprozess: Palliativbetreuung hat das Ziel, „die Familie während der Krankheitsphase und bei der Trauer über den Verlust hinaus zu unterstützen“ (Oxford Textbook of Palliative Medicine). Übrigens: in religiöser Perspektive haben die drei Zeiten schon immer zusammengehört. Die christlichen Kirchen hatten und haben eine symbolische und rituelle Begleitung für alle drei Zeiten. Und die Forschung zeigt, dass eine gute Fürsorge in der Sterbezeit sich positiv auf die Weiterlebetrauer der Zugehörigen auswirken kann. Was also das Palliativkonzept verlangt, nämlich die Trauer der Angehörigen nicht nur während der Erkrankung des Patienten, sondern auch in der Zeit nach dem Tod zu unterstützen, ist in einem wichtigen Aspekt schon in der Sterbezeit möglich. Die Unterstützung in der Sterbezeit wirkt sich als Vorsorge, nach dem Konzept von Smeding sogar als Befähigung der Betroffenen, für die Zeit nach dem Tod aus.

    1. Spirituelle Begleitung in der Sterbetrauer
      1. Spiritualität in der Begegnung

Was für alle Begleitprozesse gilt, gilt natürlich auch für die Begleitung der Trauer in der Sterbezeit: mitmenschliche Zuwendung, Achtsamkeit für den Prozess des Anderen, gutes Zuhören und gute Kommunikation, empathische Einfühlung sind die Basis für jegliche, auch die spirituelle Betreuung von Menschen. Betroffenen sollten mit dem, was sie erleben, auf angemessene Resonanz stoßen.gehört inzwischen zur Kompetenz der versorgenden Berufe und wird in der ärztlichen, pflegerischen und seelsorglichen Aus- und Fortbildung geschult; selbstverständlich auch in der Befähigung von HospizbegleiterInnen. Dabei, bei dieser mitmenschlichen Begleitung, ist in gewissem Sinn spirituelle Erfahrung möglich: Menschen, die durch eine Krebserkrankung oder auch durch den Verlust eines nahestehenden Menschen in sich selbst und in der Welt heimatlos geworden sind, können durch liebevolle Zuwendung wieder ein wenig mehr in sich selbst und in der Welt beheimatet sein. Sie können – vielleicht nur für kurze Zeit – wieder mehr bei sich selbst ankommen und sich und das Leben wieder spüren.

Die dabei möglich spirituelle Erfahrung nenne ich „Begegnungsspiritualität“, Spiritualität im Medium der Begegnung. Ermöglich wird die durch die zugewandte und empathische Haltung der Helfer.

      1. Spiritualität in den Lebenserzählungen

Viele Ausführungen über spirituelle Begleitung sehen die Haltung der Helfer und die Qualität der Begegnung als einzige und eigentliche Möglichkeit, Spiritualität in die Beziehung zum Klienten einzubringen. Es muss aber noch weitere Möglichkeiten geben, wie Spiritualität aktiviert werden kann. Ein Beispiel: Da sagt ein Patient auf der Palliativstation: „Jetzt liege ich hier und warte auf meinen Tod.“ – Heute haben viele Menschen keine Sinnperspektive im Jenseits mehr. Und alte Menschen haben oft keine Sinnarbeit im Leben mehr vor sich. Dann reicht es nicht, Menschen einfach auf den Punkt des Todes starren zu lassen, zu warten, bis sich das Loch „Tod“ auftut und bis die Natur die Sache sozusagen erledigt . Vielmehr gilt es dann, auf die Erzählungen und die Identitätssymbole der Sterbenden zu hören und dafür aufmerksam zu sein. Da sagt ein Patient mit einem Hirntumor: „Wissen Sie, ich bin Soldat, Hauptmann bin ich.“ Er ist jetzt 86 Jahre alt und längst kein Soldat mehr. Doch – er ist noch ein „Soldat“. Darin kommt etwas von seinem Selbstverständnis und von der Sinnerfahrung in seinem Leben zum Vorschein. Die braucht er jetzt, im Sterben, um vor sich selbst „gerade zu stehen“ und Ansehen von der Umgebung zu erfahren, trotz Hirntumor und was der an Einschränkungen noch alles bringen wird. Der Thanatotherapeut Hilarion Petzold5 sagt:

„Menschen sterben leichter in der Kraft der angeeigneten Lebensspanne“.

Bei dieser Aneignung können wir sie unterstützen. Denn darin ist ihre Spiritualität, ihr innerer „Geist“ eingewoben, mit dem sie ein hilfreiches Gegengewicht gegen die existenzielle Bedrohung suchen. Viele Menschen sterben heute nicht mehr im Geist ihrer Vorfahren, wie mein Großvater noch im Blick auf ein besseres Jenseits. Wenn wir ihnen aber helfen, das Leben abzurunden, das Leben einzusammeln und zu ernten, dann können sie sich sozusagen am ‚Seil‘ der eingeholten Lebensspanne in die Tiefe des Sterbens und des Todes hinablassen. Sie gehen dann nicht beziehungslos und sozusagen ‚nackt‘, also unbekleidet, auf das Loch zu – sondern sie sind bekleidet mit dem durchlebten Leben. Und wenn sie ein Vermächtnis hinterlassen können, einen Brief, ein Segenswort an Kinder oder Enkel, dann entwerfen sie sich auch über den Tod hinaus. Darin ist ihre Spiritualität eingewoben – in impliziter Form6. – Übrigens: Sterbende müssen ihr Leben nicht einfach „loslassen“, ein beliebtes Wort unter Sterbe- und Trauerbegleitern. Vielmehr dürfen sie die von ihnen mit-belebte Welt und ihre Lebensernte mitnehmen in den Tod. Christlich gesprochen: sie nehmen ihr Leben mit vor das Angesicht des Schöpfers. Alles was sie ausmacht und ausgemacht hat – ihre Beziehungen, ihre Liebe, auch ihre Begrenztheit, ihre Fesseln und ihre Unfertigkeiten tragen sie in das ewige Leben. Dort gibt Gott dem Ganzen eine Bedeutung und lässt es nicht belanglos und vergebens sein. Es gilt also in der Begleitung dazu beizutragen, dass Menschen sich das gelebte Leben und ihre Beziehungen zu Mitmenschen und Welt tiefer aneignen können.

Das gilt z.B. auch bei einer (erst recht plötzlich erfahrenen) Totgeburt. Die Mutter muss das in ihr herangewachsene Kind gerade nicht „loslassen“. Sie muss und darf sich das Kind, mit dem sie bereits einige Monate gegangen ist, zuerst verinnerlichen, indem sie über das bereits gespürte Leben, über ihre Liebe und Hoffnungen sprechen kann. Dadurch eignet sie sich das Verlorene vertieft an und es wird zum Schatz, der ihr nicht auch noch genommen wird („Sie können ja noch weitere Kinder bekommen“). Dann ist sie eher fähig, sich von dem toten Kind zu verabschieden. – Die Seelsorge kann diesen Prozess begleiten, indem sie die Eltern fragt, welchen Namen sie diesem Kind geben (oder schon gegeben haben) und indem sie auch dieses Wesen und seine Eltern segnet.

Mit ihren Lebenserzählungen und ihren Sinnsymbolen öffnen die Patienten, aber auch die Angehörigen uns die Tür zu ihrem „Lebenshaus“. „Man kann doch auch im Rollstuhl auf den Campingplatz?“ sagt die Schwerkranke zum Seelsorger und erzählt ihr Leben und ihre Sinnerfahrungen, ohne dass sie noch einmal real den Campingplatz aufsuchen muss.

Wir müssen Spiritualität nicht erst an die Patienten herantragen, sondern diese erschließen uns, in unserem Beisein implizit ihren „Geist“, mit dem sie durch diese Zeit hindurchgehen. Da klingt sozusagen die Grundmelodie durch, die das Leben dieses Menschen durchzieht. Und der Patient hofft dabei auf eine gute Resonanz und auf Wertschätzung und Würdigung seiner Lebensentwürfe und Sinnkonstruktionen. Dadurch wird ihre Trauer getröstet.

Auch die Warum-Frage ist ja zutiefst ein Trauerausdruck. „Warum – ich habe doch immer gesund gelebt?“ Hier sucht die Warum-Frage keine logische Antwort („Vielleicht hast du mal nicht aufgepasst“, oder „Darauf gibt es keine Antwort“) sondern hier braucht die Trauer ein „Nest“, in dem sie sich bergen kann. Und das Material für dieses „Nest“ besteht aus der Lebensleistung, aus der Liebesleistung, die in den Lebenserzählungen eingewoben sind. Statt dem Klienten zu empfehlen, das „Warum“ in ein „Wozu“ zu verwandeln, worüber die Betroffenen oft erfolglos grübeln, gilt es, ein Nest für dieses Warum zu bauen. Dann kann der Trauernde vielleicht selbst zu der Frage gelangen, „wozu“, zu welchen neuen Wegen und Sinngebungen ihn seine Situation herausfordert.

Spirituelle Begleitung heißt hier: den Sinngehalt aus den Sinnkonstruktionen und Identitätssymbolen herauszuhören und eine gute Resonanz darauf zu geben. Alle Begleiter können durch gute Resonanz die Sinnerfahrung der Trauernden potenzieren, sodass sie zu einer Ressource, einer Kraftquelle für den Trauerweg wird.

Diese Form der spirituellen Erfahrung in Krankheit, Sterben und Trauer kann man „Resonanzspiritualität 7 nennen. Durch die Begegnung mit dem Helfer kann die ins Leben eingewobene Spiritualität bewusster werden, die Quelle kann spürbar sprudeln, der „innere Geist“ wacher werden. Durch Resonanz, wie etwas formuliert, ins Bild oder in eine bestimmte Perspektive gebracht wird, wie hervorgehoben oder zusammengefasst wird – wird die Spiritualität in Beziehung gebracht und so bedeutungsvoller. Das entsteht a nicht erst, wenn der Seelsorger spirituelle Ideen verkündet. Das kann er später tun und den Dialog eventuell zur Glaubenskommunikation werden lassen. Zunächst geht die Lebenseinstellung und Sinnkonstruktion des Klienten vor. Seelsorge hat allerdings dabei eigene, spezifische Möglichkeiten, die (implizite oder explizite) spirituelle Erfahrung des Klienten zu vertiefen und dazu in Resonanz zu gehen.

Von Resonzspiritualität zur Glaubenskommunikation kann es kommen, w der Patient religiös ansprechbar ist. Dann kann der Seelsorgende das gelebte Leben in einen größeren Horizont stellen. Dann bekommt dieser Mensch und sein Leben vom Höchsten, von Gott her Bedeutung und er wird vom Höchsten her gewürdigt. Religiös gesehen muss der Mensch seinen Lebenssinn nicht allein aus sich selbst schöpfen. Er darf den Sinn seines (und des) Lebens von einer höheren Macht herleiten und dafür eine überweltliche Ordnung in Anspruch nehmen. Seelsorge hat hier die Rolle des Zeugen für das Lebensschicksal, für das Durchlebte und Durchlittene dieses Menschen vor Gott. Und Seelsorge ist Zeuge dafür, dass Gott im Leben, Sterben und Tod und darüber hinaus die Würde des Menschen garantiert.

Auch wenn ein Patient oder ein Trauernder nicht religiös ist oder keine überweltliche Lebensvorstellung hat, ist es möglich, mit ihm das Höchste oder Letztgültige herauszufinden, das er glaubt. Das kann der Kosmos in seiner sinnvollen Ganzheit oder ein guter Geist in allem sein oder das Humanum oder das große Geheimnis hinter allem – oder ganz einfach das, was diesem Menschen im Leben heilig war und ist. Auch hier ist der spirituelle Begleiter Zeuge für das diesem Menschen Heilige oder die Bedeutung, die er im Horizont seiner Transzendenzvorstellung hat. Wenn dies benannt wird, würdigt das den Klienten noch mal anders und gewichtiger als „nur“ durch die persönliche Wertschätzung.

Was für die Sterbezeit des Patienten gilt, das gilt auch für die Trauererfahrung der Angehörigen in der Sterbezeit. Angehörige versuchen oft ihre Trauer anzuhalten, sie im Beisein des Sterbenden nicht zu zeigen. Deshalb ist es wichtig, dass sie von den Begleitern angesprochen werden. Sie sind ja auch in Not. Es ist gut, ihnen das Sterben und das Unausweichliche rechtzeitig anzukündigen. Bei der heutigen Medizin können sie vor lauter Behandlungen das Sterben oft gar nicht realisieren. Sie begleiten den Sterbenden als Kranken mit einer chronischen Krankheit. Wenn sie aber darauf angesprochen werden: „Diese Krankheit führt zum Tod – woran ist jetzt zu denken?“ dann können sie ihre Liebe im Blick auf den Abschied bewusster in ihre Begleitung hineinlegen. In Form ihrer Sorge, ihrer Verbundenheit leben sie dann ihre Spiritualität. Die wird dann in der Zeit nach dem Tod als gute Erfahrung bei ihnen bleiben. Vor dem Tod können wir Helfer sogenannte „Trittsteine“8 ermöglichen, gute Erfahrungen, gute Potenziale, die ihre Kraft und ihren Trost in der Weiterlebetrauer abgeben und helfen, das Schwere zu tragen. Sie sollten sich vor und nach dem Tod sagen können: „Wir haben wenigstens noch… uns Gutes sagen können; alles getan, was uns möglich war; noch Wichtiges klären, ein Vermächtnis anregen können“. Das – und noch mehr können Trittsteine für den Weg durch Tod und Trauer werden: Trotz all des Schlimmen gibt es Heiles und damit oft auch Heilendes darin.

      1. Spiritualität in ritueller Form

Die dritte Form, Spiritualität zu aktivieren, sind Rituale. Angesichts existenzieller Betroffenheit ist nicht alles besprechbar und mit Worten einzuholen. Seit Urzeiten hat die Menschheit für das Unsagbare, für „das Geheimnis des Lebens“ und der Existenz rituelle und symbolische Handlungen. Gerade bei Sterben, Tod und Trauer ist es nicht möglich und nicht angebracht, den Betroffenen den Sinn dieser Ereignisse rational zu erklären. Rituale geben lebensprägenden Ereignissen wie Geburt, Schulanfang, Examen, Heiraten – aber auch Sterben und Tod – einen Sinn, ohne den Sinn zu erklären. Sie „sagen“ etwas durch „Tun“. Gerade an Schnittstellen des Lebens, wo der Lebensfaden abreißt, fügen sie Leben und Tod aneinander. Sie knüpfen das Leben vor dem Tod an das Leben nach dem Tod an. Religiöse und gemeinschaftliche Rituale halten an Bruchstellen die Existenz zusammen. Wo das Unbegreifliche geschieht, da gibt es ein Verfahren der Gemeinschaft, das an der Abrissstelle sagt: So kommst auch du durch die Todeszone hindurch. Die Abrissstelle Tod wird zum Durchgangstor in ein anderes Leben erklärt: So kommst du hinüber – so kommst du vom Hier zum noch unbekannten Dort, vom Jetzt zum noch unvorstellbaren Dann. Religiöse Rituale legen so einen Weg über den Abgrund. Sie sagen, dass das Jenseits des Todes auch Raum des Heiligen ist und das Diesseits eurer Trauer auch. Das religiöse Ritual sagt: du bist gefährdet und geschützt, du wirst (dich?) verlieren und dabei aufgefangen.

Wenn ich als Pfarrer zur „Letzten Ölung“ 9 gerufen werde, dann sagt das Ritual der Kirche: Jetzt steht eine Trennung an, die bisherige Ordnung wird sich auflösen. Die Glaubensgemeinschaft aber bestätigt die Dauer, das Fortdauern der Ordnung des Lebens auch beim Sterben, auch beim Tod, auch in der Trauer nach dem Tod. Gott ist der Garant der Kontinuität, er hält die Beziehung durch alle Brüche hindurch. Auch am Kreuz und über den Tod hinaus bleibst du Mensch in Beziehung und fällst nicht aus dieser letzten Beziehung heraus. Viele Menschen wissen, dass nur Glaubensüberzeugungen und spirituelle Erfahrungen es letztlich mit dem Tod aufnehmen können. Insofern vermitteln Rituale „Hoffnung“ – weniger durch Worte als vielmehr dadurch, dass sie eine Sinnverheißung für den Weg des Menschen enthalten. Rituale begehen nicht nur die Geburt eines Menschen, sondern auch die Sterbe- und Todeszeit, weil auch diese ihr Geheimnis und ihre Würde haben.

Zusammenfassend, kann man drei Wege, Spiritualität in Beziehung zu bringen erkennen und vorschlagen:

  1. die qualifizierte Begegnung und mitmenschliche Begleitung,
  2. ie Resonanzgebung auf die implizite und explizite Spiritualität der Betroffenen und
  3. as rituelle Begehen.

Das sind Erschließungsmethoden für Spiritualität, die das „Loch“ nicht zumachen, sondern die helfen, dass darin eventuell eine Quelle entsteht, die die Tragfähigkeit zur Trauer verstärken kann; die darin Leben entdecken lassen, das die Trauer hilft. Nach Smeding, kann dies auf zumindest drei Arten geschehen: durch Integrieren, durch Ritualisieren und durch Abrunden. (suche die Referenz noch, RmS)

    1. Spirituelle Begleitung in der Todestrauer

An das Thema „Rituale“ schließt der zweite Abschnitt im Triptychon der Trauer an: die Trauer in der Todesstunde. Die Situation am Totenbett hat ihr Besonderes, ihr eigenes Heiliges. Sterben und Tod sind existenzielle Ausnahmesituationen, die eine besondere Antwort verlangen. Zugleich sind sie eine hochspirituelle Zeit. Als Seelsorger erlebt man immer wieder, dass in der Abschiedsgestaltung Spiritualität in unwiederholbarer Weise aufwacht und zu einer wichtigen Quelle für die Weiterlebetrauer wird. „Gut, dass wir dabei sein konnten – das ist das größte Geschenk, das unser Vater uns noch im Tod gemacht hat“ höre ich Angehörige gelegentlich sagen. Angehörige sagen später oft: der Abschied am Totenbett durch die Seelsorge oder eine geistliche Begleitung oder ein Ritual durch andere Begleiter „das vergisst man nie“. Es ist „wichtig, dass hier der Lebensfaden durch den Raum des Todes hindurchgezogen wird“ (R. Smeding). Dass er nicht abreißt, sondern ins Weiterleben hinüber gesponnen werden kann. Deshalb ist es so wichtig, hier am Totenbett ein „gutes Bild“ zu ermöglichen, das zum Trittstein in der Zeit nach dem Tod, im chaotischen Fluss der Trauer werden kann. Ein „gutes Bild“ heißt nicht ein verklärendes Bild, nichts das schön färbt. Smeding hat für diese Stelle auf dem Trauerweg das Bild von der Trauerschleuse ®10 geprägt. Ein unglaublich hilfreiches Bild, das sofort verstehbar ist und das gerade auch von den Professionellen geschätzt wird. Das Bild sagt: Das Lebensschiff schwimmt auf dem Fluss der Zeit. Der Eintritt des Todes ist wie ein Wasserfall in diesem Flusslauf, das Schiff droht abzustürzen und zu zerschellen. Hier hat die Gesellschaft eine „Schleuse“ eingebaut, eine Übergangszeit, um das Schiff von einem Niveau auf ein anderes zu heben.

An dieser Stelle bietet die christliche Religion ihre perimortalen Rituale an. Am Eingang der Schleuse, wenn die Tore schon offen stehen und sich das Sterben ankündigt: einen Sterbesegen oder die „letzte Ölung“. Wenn der Tod eingetreten ist: den Abschied am Totenbett und die Aussegnung11. Am Ende der Schleuse: die Beerdigung. Sie geleitet den Verstorbenen in das Land der Toten – oder religiös gesprochen, ermöglicht ihm eine sichere Reise in die jenseitige Welt. Die Hinterbliebenen haben den Weg noch vor sich. Sie müssen lernen, zu Hierbleibenden zu werden, indem sie den Weg als Trauernde zurück in das Land der Lebenden suchen und gehen.

Beim Eintritt des Todes – sozusagen in der Todesstunde – war bis vor wenigen Jahrzehnten die Vorstellung: Die Angehörigen sind in einer Art Schock oder Narkose. Inzwischen wissen wir, dass sie selektiv hoch aufmerksam sind. Die Angehörigen wissen oft auf die Minute genau, wann der Tod eingetreten ist. Sie können alle Einzelheiten erzählen, weil dies ein so bedeutsamer, unwiederbringlicher Augenblick in ihrem Leben ist. Hier ist – trotz Eintritt des Todes – noch Kommunikation möglich. Der geliebte Mensch ist ja noch leibhaft da; das ist keine „Leiche“, sondern „unsere Mutter“, „der Opa“, „der kleine Tim“. Im Ritual müssen die Angehörigen einbezogen werden. Hier wird Leben erzählt: die Todesgeschichte der letzten Stunden, die Sterbegeschichte, die Lebens- und Beziehungsgeschichte, das ganze Leben wie in der Nussschale. Hier darf der Begleiter „das Geheimnis des Lebens“ dieser Menschen berühren. Das ist heiliger Boden. Beim Tod ist das Leben noch dichter und versammelter als in den Tagen vorher, die von Sorgen und Hoffen und Behandlungen ausgefüllt waren. Das Geheimnis des Lebens ist hier spürbar präsent – einschließlich der realen Geheimnisse (z.B. des unehelichen Kindes, das immer verschwiegen wurde). Religiöse Rituale – überhaupt Rituale – vermögen hier die spirituellen Energien aufzurufen, mit denen Menschen zu allen Zeiten die Knotenpunkte des Lebens begangen und aufgefangen haben. Speziell Religion verheißt Bleibendes über das Zerfallen und den Abriss hinaus. Der Soziologe Ulrich Beck stellt lapidar fest: „Alle historisch früheren Epochen waren nicht so leichtsinnig, das Leben mit seinem Ende enden zu lassen“.12 Das christliche Ritual sagt: Dein Schicksal kannst du bestehen im Vertrauen auf Gott und Jesus Christus, der selbst den Weg durch den Tod gegangen ist. Auf diesem Weg kommst auch du durch. Dafür rüsten wir dich mit diesem symbolischen Verfahren aus. Wir sagen dir damit: auch dein Schicksal führt nicht vom Sinn des Lebens weg, sondern tiefer hinein: „So ist es gut – im Sinn Gottes“. Du fällst nicht aus der Ordnung des Lebens heraus, sondern bleibst in dieser Ordnung. Deine Identität geht nicht verloren; wohl vergeht sie in dieser Welt, zugleich aber bleibt sie bei Gott bewahrt. Das Unsagbare des Sterbens, des Todes und der Trauer steht in der Macht eines Höheren, der auch dem sinnlos Erscheinenden letztlich einen Sinn im Ganzen des Lebens und der Welt zuweist und verleiht.

Die hinterbliebenen Trauernden müssen diese Verheißung noch einholen. Auf dem oft langen Weg der Trauer müssen sie zu Hierbleibenden werden. Daher darf der Begleiter das Ritual nicht mit Weisheiten füllen, die den Abriss überblenden und am Erleben der Trauernden vorbeigehen. Die Logik der Spiritualität ist vielmehr, dass das Ritual die Energien trägt und bindet, die beim Tod entbunden wrden. Rituale stellen den spirituellen Raum zur Verfügung für das Unlösbare und Unwiederbringliche. „Sinn“ wird durch den spirituellen Raum ermöglicht und transportiert, nicht durch rationale Erklärungen weder medizinischer, noch psychologischer noch theologischer Art. Das Ritual selbst „deutet“. Diese Art von Deutung geschieht weniger durch den Inhalt der Worte als durch die Darstellung selbst. (Trotzdem müssen die Worte gut und angemessen gewählt werden.) Das Ritual inszeniert das Geheimnis des Lebens. Es berührt und „begeht“ dieses Geheimnis, aber es be- und verarbeitet das Geheimnis nicht.

    1. Spiritualität in der Weiterlebetrauer

Eigentlich müsste der dritte Teil im Triptychon der Trauer genauso viel Raum erhalten wie die Sterbe- und die Todestrauer. Aber die Nach-dem-Tod-Trauer wird ja in den anderen Beiträgen dieses Buches noch ausgiebig dargestellt.

Daher sei hier nur kurz angedeutet: Der oben beschriebene „Dreipass“ 13 mit Begegnungsspiritualität, Resonanzspiritualität und symbolischem Handeln gilt als Begleitmodell auch für die Weiterlebetrauer. Es ist eine hoch-spirituelle Aufgabe für Trauernde, von einem „Wir“ zu einem neuen „Ich“ zu werden. Man hatte das bisherige Ich ja mit dem Verstorbenen zusammen konstruiert. Sich zu trauen, wieder ein eigenes Ich zu werden, ist eine höchst anspruchsvolle Aufgabe für Trauernde. Hier sind es zunächst vor allem die Symbole der Verbundenheit, die implizit Spiritualität tragen. Hier öffnen uns die Menschen selbst ihr Haus der Trauer. Das geschieht bereits in der Sterbezeit, aber auch beim Abschied am Totenbett, beim Kondolenzbesuch, beim Vorbereitungsgespräch für die Beerdigung. Und es geschieht bei Begleitung und Begegnung in der Nach-dem-Tod-Trauer. Die oft alltäglichen kleinen Dinge können zu Bedeutungsträgern für das ganz Große werden. So klein sie sind, so groß kann die Bedeutung sein, die sie an sich tragen: Der Waschlappen, den der Verstorbene zuletzt noch benutzt hat, die bald zu Ende gehende gemeinsam benutzte Seife – es ist unendlich viel, was zugleich schmerzt und verbindet. Auch Schuldgefühle, so leicht sie rational zu entkräften wären, tragen die Verbundenheit als spirituelle Quelle in sich. Meine These ist sogar: Alle Symbole der Trauer sind zugleich Symbole für eine Ressource: die darin zum Ausdruck kommende Liebe, das Wertvolle, weswegen man verbunden war – und über das Symbol verbunden bleibt. Da steckt der Schatz drin, der angeeignet sein will – und nicht losgelassen werden muss.

Hier ist die Frage für den Begleiter: Was ist das Heilige im Seifenrest, in den Gummistiefeln, die seit seinem Tod immer noch am Ausgang zum Garten stehen, im Schrank von Tante Leni? Was kann als Heiliges mitgenommen werden auf den Trauerweg und dort sein Potenzial entfalten, sodass die Betroffenen selbst ihre Trauerzeit damit und daraus schöpfend gestalten können? Das Heilige zu repräsentieren und eventuell zu erschließen, ist Aufgabe der spirituellen Begleiter. Und im Namen des Heiligen zu segnen und die Symbole und die persönlichen Rituale zum Schatz werden zu lassen – zu Sinnsymbolen in Schicksalen, für die es keine Lösung und keinen Ersatz für das Unwiederbringliche gibt.

Literatur

  1. Walter T (1994) The revival of death. Routlege, New York.
  2. Klass D (2010) Eltern Trauer Seelen Leben. Das spirituelle Leben trauernder Eltern. Würzburg.
  3. Smeding R (2005) Einführung – die Mitte das Modells: die Quelle. In: Smeding R, Heitkönig-Wilp M (Hg) Trauer Erschließen – eine Tafel der Gezeiten. Wuppertal: 244-247.
  4. Smeding R (2012) Das Triptychon der Trauer. Die Hospizzeitschrift, Ausgabe 52: 6-11.
  5. Petzold H (1984) Integrative Therapie – der Gestaltansatz in der Begleitung und psychotherapeutischen Betreuung sterbender Menschen. In: Spiegel-Rösing I (Hg) Die Begleitung Sterbender. Paderborn: 431-497.
  6. Weiher E (2008) Das Geheimnis des Lebens berühren. Spiritualität bei Krankheit, Sterben, Tod. Eine Grammatik für Helfende. Stuttgart, 4. Aufl. 2014, S. 100.
  7. Ebda. S.108.
  8. Smeding R (2009) Zwischen Tod und Ende der ‚ersten‘ Trauerzeit: die Schleusenzeit®. In: Smeding R, Heitkönig-Wilp M (Hg) Trauer Erschließen – eine Tafel der Gezeiten. Wuppertal: 148-136.
  9. Weiher E (1999) Die Religion, die Trauer und der Trost. Seelsorge an den Grenzen des Lebens. Mainz, 3. Aufl. 2007.
  10. Smeding R, Weiher E (1999) Tot und begraben? Der Seelsorger als Schleusenwärter. In: Weiher E, Die Religion, die Trauer und der Trost. Mainz: 168-180.
  11. Feldmann K-H (2009) Abschied am Totenbett. Lebendige Seelsorge 60. Jg.: 260-266.
  12. Beck U (1995) Eigenes Leben. Ausflüge in die unbekannte Gesellschaft, in der wir leben. München: 171ff.
  13. Weiher, Geheimnis des Lebens: 132 ff.