Zum Inhalt springen

Auf der Spur der Spiritualität

  • Ein Modell für den Weg der spirituellen Begleitung

Die Aussagen von Klienten können auf den 4 Ebenen gehört werden:

  • Sachebene
  • Gefühlsebene
  • Identitätsebene („Sehen Sie mal, so jemand bin ich. So möchte ich gesehen werden.“)
  • Spiritualitätsebene („Das hat für mich eine Bedeutung. Das ist mir heilig. So hat mein Leben Sinn. … „)

 Diese Ebenen sind als inneres Analyse-Instrument für die Begleitpersonen gedacht.

Sie versuchen, der Aussage-Absicht des Klienten gerecht zu werden, auch wenn dieser selbst nicht die Begrifflichkeit (Sach-, Gefühls-, Identitäts- und Spiritualitätsebene) verwendet und keine „Analyse“ für sich vornimmt und auch nicht vorzunehmen braucht. Die Analyse nach 4 Ebenen dient ausschließlich dem Begleiter, damit dieser einen möglichst weiten „Möglichkeitsraum“ für sein Zuhören und Resonanzgeben zur Verfügung hat und weder auf der Sach- noch auf der Gefühlsebene bleibt, wenn es beim Patienten (und seinen Angehörigen) um Existenz und Spiritualität geht. Diesen Möglichkeitsraum braucht der Begleiter für sich, damit er ihn auch möglichst offen und weit dem Patienten zur Verfügung stellen kann. Dann kann dieser ihn auch als möglichst weiten „Bedeutungsraum“ für seine Selbsterkundung nutzen.

Im Folgenden soll an einem Alltagsbeispiel der Erschließungsweg für die spirituelle Dimension vorgestellt werden. Es geht hier nicht um komplexe Fallbeschreibungen, sondern um markante und doch zugleich alltägliche Lebenserzählungen von Menschen. Diese sind oft ganz unspektakulär und werden ganz beiläufig geäußert.

  1. Das Hineinführen

Die Seelsorgeperson besucht eine etwa 74-jährige Patientin. Nach der Vorstellung des Seelsorgers und der ersten Kontaktaufnahme sagt die Patientin: „Ja, jetzt liege ich hier im Krankenhaus. Dabei habe ich noch vor einer Woche in meinem Garten gearbeitet.“

Wie kann sich das Gespräch jetzt weiter entwickeln?

* Die Tochter sitzt am Bett der Mutter. Sie geht sofort darauf ein: „Mutter, das sagst       du immer wieder. Denk doch nicht dauernd an die Arbeit im Garten. Das machen wir doch schon.“

* Der (ungeschulte) Arzt, der gerade am Nachbarbett zu tun hat, sagt: „Frau N., jetzt denken Sie mal nicht gleich wieder an die Arbeit. Jetzt schauen wir erst mal, dass Sie wieder stabil werden.“

Wie aber kann der Seelsorger den „inneren Geist“ dieser Frau, also ihre Spiritualität heraus hören und sie auf der spirituellen Ebene unterstützen?

Versuchungen für die Seelsorge sind:

  • „Ihre Tochter hat Recht, es geht doch jetzt erst mal…., damit Sie wieder…“
  • oder: „Das ist aber unglücklich gelaufen, dass Ihnen das jetzt passiert ist.“
  • oder: „Da sind Sie sicher traurig, dass Sie zur Zeit nicht…“
  • oder: „Ihr Garten – da hatten Sie sicher viel Arbeit – und das in Ihrem Alter…“
  • oder: „Ihr Garten, ist der sehr groß? Macht der viel Arbeit – haben Sie Hilfe dabei?“

oder: „Sie sind jetzt hier im Krankenhaus und müssen fest im Bett liegen. Das ist sicher nicht einfach, wo Sie sich doch sicher gerne bewegen.“

Bei solchen Reaktionen der Seelsorge bleibt der Begleiter eher bei sich – bei seinem Informationsbedürfnis auf der Sachebene („wie groß ist…?“), bei seinen Interpretationen (wie er sich denkt, dass es der Patientin wohl geht) oder auf der Ebene der Gefühle (traurig, unglücklich).

Reaktionen auf der Sachebene gehören in die Kategorie „wer hat…“, „wie lange ist das her…“, „wo ist das?“. Sie versuchen, sachlich das Feld abzutasten. Sie zeigen zwar Interesse am Gegenüber, dienen aber mehr dem Orientierungsbedürfnis des Begleiters. Die Gefahr ist, dass sie auf der Sachebene bleiben und nicht in die dem Patienten wichtige Dimension „Bedeutung“ führen.

Das gilt ebenso für Reaktionen, die auf der Gefühlsebene bleiben. Diese sind zwar als Brückenreaktionen gedacht, die eine Beziehung zum Patienten herstellen, aber sie bleiben oft auf dieser Ebene, obwohl es um existenzielle Betroffenheit geht.

Vorschnelle Interpretationen enthalten oft die Gefahr, dass der Begleiter dem Patienten Deutungen nahelegt, von denen er noch gar nicht weiß, ob sie für den Patienten zutreffen. Sie sollen wohl dem Patienten signalisieren: „Ich verstehe dich so gut, dass du spürst, wie gut ich mich in dich hinein versetzen kann und wie nahe ich dir in deinem Problem bin.“

Natürlich können sachliche oder emotionale Reaktionen erste Brücken zum Gegenüber bilden und der Beziehungsaufnahme dienen.

In der Zeit der Psychologisierung hatte Seelsorge vor allem die Gefühlsdimension im Blick: „feeling is healing“. Wenn sie die Patienten dort erreicht hatte, wähnte sie sich fast schon am Ziel. Die Gefühle konnten dann in einem Gebet oder Schriftwort aufgefangen werden.

Das sofortige Eingehen auf die Sach- oder Gefühlsebene kann aber auch die Ebenen markieren und festlegen, auf der sich das Gespräch mit der Seelsorge wohl üblicher Weise bewegt. Viele Patienten wissen heute nicht mehr, was ein Seelsorgegespräch für Möglichkeiten enthält und was ihnen dies erschließen kann.

Anders verläuft das Gespräch, wenn der Begleiter dem Patienten Raum gibt für dessen Selbsterschließung. Ganz einfache Reaktionen helfen dabei, das Gegenüber zur Selbsterkundung anzuregen und damit zu dem Bedeutungsreichtum, den es für ihn hat, die der Begleiter nicht schon wissen kann. Es geht also darum, den „Raum“ möglichst freizuhalten und so in Resonanz zu gehen, dass der Patient zur narrativen Selbstentfaltung kommt. Die obige Patientin ist ja bereits in einem narrativen Modus.

Hier helfen ganz einfache Reaktionen des Seelsorgers wie:

            Einen Stuhl herbeiziehen und offen sein Interesse bekunden:

  • aha, ach ja…
  • „Ihr Garten…? Möchten Sie erzählen?“
  • „Ihr Garten… – interessant – möchten Sie mir mehr davon erzählen?“
  • „Vor zwei Wochen noch in Ihrem Garten…?“

Dies sind „neutrale“ Zugänge, die es dem Patienten erlauben, seine eigenen Bedeutungen zu artikulieren, die in seiner Aussage mit enthalten sind. Denn: weshalb sagt die Patientin das überhaupt? Weil es für sie mit Bedeutung gefüllt ist.

Dafür braucht es die Abstinenz des Begleiters. Denn bei Spiritualität geht es um den inneren Bedeutungsgehalt dieses Menschen, also um seinen „inneren Geist“, mit dem er jetzt hier im Bett liegt. Denn nur der Klient kennt die tiefere Bedeutung, den inneren Gehalt, der für ihn damit verbunden ist.

Hier helfen die vier Erstreaktionen, mit denen Menschen (hier: der Begleiter) in neuen Begegnungssituationen und bei ihnen noch fremden Themen jeweils vorrangig reagieren:

  • der eine mit Gefühlsreaktionen
  • ein anderer mit „Denken“ (z.B. Informationen suchen)
  • ein anderer möchte mit „Tun“ reagieren (z.B „brauchen Sie Hilfe?“ „Am Wochenende könnte man Sie doch mal im Rollstuhl…“)

Auch schnelle Interpretationen sind ein „Tun“.

„Abstinent“ und „neutral“ aber heißt:

Sich der eigenen Erstreaktion, zu der der Helfer persönlich neigt, zu enthalten und dem Patienten Raum und Zeit zur Entfaltung zu geben (vielleicht sind das dessen Erstreaktionen, die er braucht, um mit der ungewohnten Situation umzugehen).

Tun                Fühlen

abstinent       Denken

neutral

Es ist also wichtig, wie der Begleiter das „Hineinführen“ gestaltet, damit der Klient auf seine ihn erfüllende tiefere Bedeutung seiner Sinnerfahrung, also auf seine spirituelle Spur kommen und sich das entfalten kann, was ihm wichtig ist.

„Hineinführen“ – ist durchaus ein „Führen“ durch den Begleiter: formal führt der Begleiter das Gespräch, in dem er den Raum für Existenz und Spiritualität offenhält. Inhaltlich aber „führt“ der Begleitete, der Klient, indem er den Bedeutungsraum füllt und sich in diesem „Raum“ aufhalten kann.

  • Das Hindurchführen ist die zweite Phase des erschließenden Gesprächs. In dieser Phase bleibt der Begleiter nicht neutral. Wenn er sich genügend in den Bedeutungsraum des Gegenüber eingehört hat, kann er sich mit dem Klienten zusammen in dessen Lebens-, Leidens- und Identitäts-“landschaft“ umsehen und mit ihm durch teilnehmendes Fragen mal dahin, mal dorthin die Aufmerksamkeit lenken. Er muss dabei aber an der Seite des Patienten bleiben. Er kann dabei Verstehens-Angebote machen, die helfen, in der Lebenslandschaft Bedeutsames zu entdecken. Es gilt dabei aber, nicht analytisch aufzudecken – am Krankenbett ist der Patient beim Begleiter nicht in Therapie.

Beim Hindurchführen nutzt der Begleiter Ideen aus dem Möglichkeitsraum der 4 Ebenen:

  • „Und das hat Sie gefreut…?“
  • „Ich höre, dass das auch nicht immer einfach war…?“
  • „Gab es auch Schwieriges dabei…?“
  • „Sie haben gesagt, mit Ihrem Mann zusammen. Hat Sie das miteinander sehr verbunden?“
  • „Und da sind Sie stolz drauf…?“

Die Frage ist hier, wofür der Klient die Begleitperson jetzt braucht .

Formal und funktionell braucht der Klient den Anderen als Zuhörer, um Zuwendung zu erfahren, um angenommen zu sein, nicht um beurteilt zu werden… .

Wofür aber nutzt der Klient den Begleiter in einem tieferen Sinn?

Meine These ist: Er möchte für sich folgende Erfahrungen machen:

  • „Ist meine Leben nicht doch gut gelungen?“
  • „Bin ich noch wer – trotz der Krankheit, dem Sterben?“, also um seine Identität zu sichern, für sein Selbstwertgefühl
  • „Habe ich noch Bedeutung – für mich selbst, vor anderen, in der Welt?“
  • „Gehöre ich noch zu einem sinnvollen Ganzen? Bin ich noch in einer guten Ordnung aufgehoben, trotz und mit meiner Krankheit?“

So hört sich vielleicht das innere Selbstgespräch eines Patienten an. Und für diese Erfahrung braucht er ein Gegenüber, um sich seinen Selbstwert nicht monologisch selbst zusprechen zu müssen.

Das Hindurchführen hat den Sinn, mit dem Patienten eine „Expedition“ zu tieferer Bedeutung zu machen, zu Quellen in ihm, die mehr Kraft enthalten als er im „Selbstgespräch“ für sich zu entdecken vermag. Dabei ist der Helfer Gast im Haus des Klienten, Gast auf seinem Anwesen. Der zeigt dem Begleiter Bedeutungsvolles von sich. Er geht mit dem Begleiter nicht in alle Räume seines Hauses, nicht in alle Winkel seines Gartens. Aber er lässt den Begleiter symbolisch – pars pro toto – teilhaben an Sinn-Momenten, an für ihn Wesentlichem – sogar an seinem „Heiligen“ („heilig“ – etwas, das symbolisch für etwas vom Höchsten eines Menschen steht, für etwas vom Wertvollsten, das es für ihn gibt). Menschen zeigen im Vordergrund etwas vor, weil es für etwas Tieferes, bzw. Höheres im Hintergrund steht. Das Vordergründige lässt das Hintergründige symbolisch durchscheinen. Es gilt, mit dem Klienten durch die „Landschaft“ des Symbols (z.B. der Garten der Patientin) zu gehen. Symbole sind nämlich selbst Landschaften und nicht eindimensionale Linien.

Vielleicht erzählt die Patientin mit dem „Garten“, dass sie da auch in Krisenzeiten ihre Zuflucht gefunden hat, z.B. nach dem frühen Tod ihrer Enkelin. Eine weiterführende Frage könnte bei einem sterbenden Menschen z.B. sein: „Wo können Sie einmal Zuflucht finden, wenn Ihr Weg in dieser Welt zu Ende geht?“

Vielleicht erzählt die Patientin aber auch einfach von ihren erfüllenden Erfahrungen mit ihrem Garten. Spirituell erschließend könnte dann sein: „Ist das Ihr (kleines) Paradies? Auch mit Dornen und Disteln, aber auch mit Früchten und Blumen?“

Weiter könnten erschließende Reaktionen sein:

  • Was war/ist die schönste, was die schwierigste Erfahrung dabei?
  • Was bedauern Sie, wofür hat es sich gelohnt?

Wofür sind Sie besonders dankbar?

  • Was hat der Garten Sie gelehrt? (Vielleicht, dass es Wachsen und Vergehen gibt…, Fülle und Mangel…, Ungeduld und Gelassenheit…)
  • Was ist Ihnen dabei über das Leben und die Welt aufgegangen?
  • Gibt/gab es auch noch anderes, wo Sie Erfüllung/Sinn in Ihrem Leben erfahren haben?
  • Was haben Sie geliebt/lieben Sie?
  • Wo schlägt Ihr Herz (noch)?
  • Wann waren/sind Sie mit sich und der Welt im Reinen? Was hilft Ihnen dabei?

Solche erschließenden Fragen stellt der Begleiter in der Regel nicht gleich zu Anfang. Es braucht schon einen Zugang des Patienten zu sich selbst, zu seinen Lebens- und Identitätserfahrungen, bevor das Bedeutungsvolle darin zu entdecken ist und es sich ihm erschließt.

Hier wurde bewusst ein einfaches Beispiel gewählt.

Die meisten Menschen haben auch in tragischen und unauflösbaren Situationen nicht nur „Probleme“, sondern auch unspektakuläre Sinnerfahrungen, die ihre Identität ausmachen. Es geht darum, sich nicht sofort auf „Probleme“ zu fokussieren, sonst werden vor lauter „Problemen“ die Ressourcen übersehen. Die Begleiter verpassen sonst den „Normalfall“ der spirituellen Begegnung.

Natürlich sind Menschen auch von schwierigen und schweren Verlusten belastet.

Da wären erschließende Fragen:

  • Wie haben Sie das geschafft, mit all dem Schweren zu leben?
  • Was ist Ihnen in dieser Zeit auch gelungen, wozu waren Sie bei aller Belastung auch imstande? (Nicht: „Es gab/gibt doch sicher auch Gutes in Ihrem Leben!“)

Natürlich muss ein solcher Erschließungsweg nicht so verlaufen. Es kann sein, dass sich die „Tiefe“ und „Fülle“ nicht weiter oder ganz anders öffnet und vieles nicht ins Wort gebracht wird. Aber es ist in jedem Fall gut, wenn das „Geheimnis“, das „Heilige“ eines Menschen auch nur berührt wird und in Resonanz kommen darf. Nicht jeder Mensch hat die Fähigkeit, über sein Inneres zu reden.

Aber die Klangschale kann angestoßen werden und sie darf klingen.

Am Ende der Gesprächsphase „Hindurchführen“ sollten Würdigung und Wertschätzung stehen.

Z.B. (je nach Gesprächsverlauf):

  • „Ich habe gehört, dass der Garten für das Gute steht, das Sie in Ihrem Leben erfahren haben.“
  • „Dass es in dieser Welt einen Platz für Sie gibt, an dem Sie gespürt haben, dass Sie gut aufgehoben sind.“
  • Vielleicht ist dabei auf unspektakuläre Weise auch ihre Lebensleistung zur Sprache gekommen, ihre Sorge für die Familie, die sie mit der Ernte versorgt hat.
  • Vielleicht ist der Garten auch ein symbolischer Ort dafür, wie sie das Leben gepflegt und zu einem guten Platz gemacht hat – was ihr vielleicht bei dieser Erkrankung nie mehr möglich sein wird.
  • Vielleicht hat sie dort viel Arbeit gehabt, dabei aber auch ihre Kraft und ihre Liebe zur Natur gelebt.
  • Vielleicht steht der Garten auch für Ihre Lebensleistung (dass sie so und auf vielfältige Weise „das Haus“ und ihre Familie versorgt hat) oder für ein Lebensmotto, das als Abschluss für eine Würdigung dienen kann.

Es geht um das „Gute“ (nicht nur das Schöne und Angenehme) darin. Das kann zu einer wichtigen Ressource für ihren weiteren Weg werden.

Die Strategie der Durchführung ist: mit dem Patienten ein „Nest“ zu bauen, in dem sich seine erschütterte Identität, seine Trauer, seine Verluste, seine Angst… bergen kann. Es gilt also, in den Lebensgeschichten und Identitätsbekundungen auf Momente der Sinn- und Identitätserfahrung zu stoßen. Das Gespräch soll dazu beitragen, dass die Sinnerfahrung, die bisher implizit geblieben ist, anonym sozusagen im Patienten „geschlafen“ hat, gehoben wird und so zur Quelle für den weiteren Weg des Patienten werden kann. Der weitere Weg kann vielleicht als ziemlich sinnlos erscheinen und viel Sinnlosigkeitserfahrung mit sich bringen (z.B. Auszug aus der Wohnung, Umzug ins Altenheim…). Dafür und für die jetzige Situation spirituelle Ressourcen zu heben, ist Sinn solcher Gespräche.

Die Strategie ist, kurz gefasst: In der Regel zuerst mögliche Ressourcen im Auge zu haben, und dann die Trauer, den Verlust, die Angst einzubeziehen. –

Eine Erfahrung der Seelsorge ist: Patienten holen sich in der Regel zuerst Momente ihrer Identität und (implizit) ihrer Spiritualität, um mit dieser Ressource gestärkt („resilient“) auf die Seite der Trauer, der Angst, etc. zu gehen. Sie versuchen, Quellen zu finden, um bei aller Bedrohung und allen Identitätsverlusten „am Leben zu bleiben“.

Hierzu passt eine wichtige Erkenntnis, die der Psycho- und Thanatotherapeut Hilarion Petzold (1984) für Sterbende so formuliert hat:

Menschen sterben offensichtlich „leichter“, wenn sie sich ihre Lebensspanne aneignen können. In der Kraft des angeeigneten Lebens können sie sich eher in die unbekannte Tiefe des Sterbens, des Todes oder der Trauer hinunterlassen.

Ich nenne die in den Lebenserzählungen zum Vorschein kommende Spiritualität die „Alltagsspiritualität“ eines Menschen, seine Alltagspoesie. Das, was nicht reflektiert in wohlüberlegten Worten und Konzepten gesagt wird, sondern narrativ. Und was doch Bedeutung für diesen Menschen hat und ihm Bedeutung vor anderen und in der Welt gibt. Menschen würden sich nicht so auf alltägliche Weise äußern, wenn es nicht mit Wichtigkeit gefüllt wäre: Im „Kleinen“ ist das „Große“ gemeint, das „Große“ erscheint in Alltagsform. Spirituelle Erfahrungen sind also nicht erst „Peak- Erfahrungen“, Erfahrungen der All-Verbundenheit, Meditations- und Versenkungserfahrungen, Erfahrungen mit dem Numinosen oder Übersinnlichen. Sie sind viel eher in die Alltagserfahrungen des Lebens „eingewoben“, „implizit“ darin verborgen und gleichzeitig dort auf-scheinend. Menschen kleiden ihre Erfahrungen mit dem Heiligen des Lebens in ihre Alltagserzählungen, in ihre symbolisch gemeinten Äußerungen (zum Umgang mit symbolischen Äußerungen siehe: Weiher E (2017) Symbolische Kommunikation in Seelsorge und Spiritual Care. In: Peng Keller S (Hg) Bilder als Vertrauensbrücken. De Gruyter).

Nicht erst der Seelsorgende bringt Spiritualität ans Kranken- oder Sterbebett oder ins Trauergespräch mit. Menschen wollen heutzutage nicht mit einer Spiritualität von außen belehrt werden. Spirituelle Erfahrung entsteht in der Regel in der Beziehung mit einem Gegenüber. Dann wird das, was sich als „Sinn“ im Leben dieses Menschen angesammelt oder implizit ereignet hat, jetzt „flüssig“. Es wird zum Schatz, der durch die Entdeckung des Patienten und durch die Wertschätzung des Begleiters seinen Glanz bekommt. Beide, der Klient und der Begleiter, können dabei neue spirituelle Erfahrung machen. Oft wissen weder der Begleiter noch der Patient nicht schon am Anfang der Begegnung, was für ein Schatz sich offenbaren kann. Erst in der Resonanz miteinander wird die spirituelle Dimension „wach“. Sie kann auf dem weiteren Weg mitgenommen werden und ihre Wirkung entfalten. – Die sich in solchen – nicht nur seelsorglichen –  Beziehungen ereignende Spiritualität nenne ich

„Resonanzspiritualität“.

Der das Hindurchführen abschließende Teil des Gesprächs gilt der Abrundung. Der Klient soll erfahren, dass in all dem, was er geäußert hat, etwas Wertvolles enthalten ist. Irgendwie ist darin etwas von seiner Lebensleistung sichtbar geworden, etwas von dem, wozu nur er imstande war und ist. Auch wenn vieles nicht gelungen, vieles unerfüllt oder fragmenthaft geblieben ist, hat dieser Mensch dort seine Lebensleistung erbracht. Diese gilt es wertzuschätzen und zu würdigen. Hier gilt es,

  • etwas Wesentliches aus dem Gesagten noch einmal anklingen zu lassen
  • das Leidvolle darin zu berühren und es einen Augenblick zu „wiegen“ (d.h. es wie ein verletztes Kind in die eigenen „Arme“ zu nehmen, es bewusst anzuschauen und es in seinen „Armen“ zu wiegen)
  • in einer kleinen Zeit des Schweigens das Bedeutungsvolle aus- und nachklingen zu lassen
  • vielleicht mit einer kurzen Zusammenfassung das Bedeutungsvolle darin zu berühren (nicht erschöpfend alles noch einmal aufzuzählen)
  • mit Fragen wie „Und dafür können Sie dankbar sein?“ „Da hat sich etwas Wesentliches erfüllt?“ den Klienten anregen, seine eigene Wertschätzung zu formulieren.

Es geht beim Würdigen darum, nicht zu urteilen, sondern gelten zu lassen. Korrektur- und Urteilsbedürftiges hat in vorherigen Abschnitten des Gesprächs seinen Platz, kaum bei der Abrundung. – Zur Wichtigkeit der Berufsrolle beim Würdigen und deren Symbolkraft- und Potenzierungskraft siehe: Weiher E (2014) Das  Geheimnis des Lebens berühren.

  • Das Hinausführen

Die dritte Phase des Erschließungsweges ist das „Hinausführen“. Es hat den Sinn, den Patienten zu befähigen, das, was ihm in spiritueller Perspektive aufgegangen ist, zu „ernten“, für sich zu integrieren und in seinem (Familien-) System einen Platz zu geben. Es geht darum, ihm beim Aneignen zu helfen und bei der Frage, wie er mit dem Bedeutungsvollen in seinem Leben weiter umgehen kann. Denn das Spirituelle gehört ihm selbst; der Begleiter ist „nur“ Katalysator, Er-möglicher im Prozess.

Der Prozess dient primär dem Klienten, implizit auch seinem System und erst in dritter Linie dem Begleiter und seiner spirituellen Erfahrung.

Das Hinausführen ist auch deshalb wichtig, weil der Klient durch die Beziehung zum Begleiter irgendwie an sein „Heiliges“ drangekommen ist und er sich in seiner Intimität oder seinen Hoch- und Tiefgefühlen geöffnet hat. Der Begleiter darf ihn jetzt nicht in der Intimität so geöffnet und „nackt“ verlassen. Es gilt vielmehr, den Anschluss an das Danach zu ermöglichen, wo der Helfer nicht mehr dabei ist, und dem Klienten zu helfen, aus großer „Höhe“ oder „Tiefe“ im Alltag anzukommen.

Möglichkeiten des Hinausführens sind:

  • „Jetzt haben Sie mir als Arzt, als Krankenschwester, als Psychologen, als Seelsorgerin das alles erzählt. Was bedeutet das für Sie, wie geht es Ihnen jetzt damit?“
  • z. B. der Pflege: „gleich kommt das Essen. Haben Sie Appetit? Was würde Ihnen jetzt besonders schmecken?“ oder: „Was kommt heute noch auf Sie zu – worauf können Sie sich freuen / oder: worauf hoffen Sie für heute?“
  • z. B. der Seelsoge:

ein kleines Ritual: ein Gebet, ein Segenswort, wo sie das Bedeutungsvolle vor dem Höchsten, vor Gott gelten lässt und so von höchster Warte her Würdigung ermöglicht,

oder: Ein Wort aus der religiösen Tradition – ein Lied- oder Psalmvers, ein Schriftwort, ein Bild – das jetzt passt (aber immer mit der Frage verbunden: „Können Sie das auch so sehen, oder ist das für Sie anders?“)

oder: „Können Sie dankbar sein – auch Gott?“ (oder dem Höchsten, an das Sie glauben?).

Zum Patienten gehört aber auch sein Beziehungssystem, seine An- und Zugehörigen. Es gilt, auch diese im Blick zu haben. Erst recht bei Sterbenden ist es wichtig, dass sie den Angehörigen etwas Bedeutungsvolles von sich hinterlassen können, das denen in der Trauerzeit eine Hilfe (ein „Trittstein“, Rm. Smeding) ist. – Möglichkeiten sind z.B.

  •  „Wissen Ihre Angehörigen (Ihr Freund, Partnerin…), was Ihnen so wertvoll ist? Können Sie mit denen darüber reden?“
  • Können Sie Ihren Angehörigen sagen, wie wichtig die für Sie sind…. dass Sie sie lieben? Wem möchten Sie das auf jeden Fall sagen? Können Sie sich das vorstellen? Was könnte Ihnen helfen, das zu realisieren?“
  • „Als wer möchten Sie in Ihrer Familie (Verein, Beruf) in Erinnerung bleiben?“
  • Was möchten Sie noch klären, was noch verwirklichen? Auch wenn nicht mehr alles geht, was ist Ihnen auf jeden Fall wichtig?
  • „Können Sie ein Vermächtnis formulieren? Z.B. einen Brief an die Enkel? Möchten Sie einen Gegenstand, ein Bild… übergeben und sagen, wer das bekommen soll und womit das „aufgeladen“ ist?“
  • „Darf ich das bei uns im Team sagen, was Sie alles im Leben geleistet haben, damit auch die Anderen Sie so sehen können?“

Erst jetzt, nachdem sich die Bedeutung für den Patienten entfalten konnte, ist daran zu denken, was davon noch real eingelöst werden kann:

  • noch mal in den Garten gehen können
  • Bilder davon anschauen
  • den „Wünsche-Wagen“ organisieren

Ganz am Ende der Hinausführung (aber bei vielen Helfern gleich am Anfang und daher andere Möglichkeiten verdrängend) steht die persönliche Verabschiedung.

  • „Vielen Dank, dass Sie mir das alles anvertraut, erzählt…haben. Das hat mich sehr beeindruckt.“
  • „Vielen Dank. Ich habe von Ihnen viel gelernt, wie es Menschen ergehen kann. Das hilft mir, in meinem Beruf, Menschen besser zu verstehen.“
  • „Ich komme die nächsten Tage wieder bei Ihnen vorbei. Ist das ok für Sie?“

Der konkrete Erschließungsweg bei einem konkreten Patienten muss nicht so verlaufen. Dieses Modell eines Weges ist als innerer Leitfaden für den Begleiter gedacht. Er muss dabei seine eigenen Worte finden und seiner Intuition nachgehen. –  Als Struktur aber ist das Hinein-, Hindurch- und Hinausführen in jedem Fall sinnvoll und für beide Seiten hilfreich.