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Abschied am Totenbett

Fallgeschichte

„Nein, ich kann das nicht, ich will ihn lieber so in Erinnerung behalten, wie ich ihn gekannt habe…“. Die Tochter, Frau Semrock, zögert. Vor ein paar Stunden erst war sie hier gewesen. Sicher, dem Vater ging es nicht gut. Die Schwestern hatten sie informiert. Aber nichts deutete darauf hin, dass es so schnell gehen würde. Und jetzt liegt er hinter dieser Tür.

Die Schwester am Telefon hatte sie schon gefragt, ob noch jemand mitkommen könne. Aber wen sollte sie bitten, so früh am Morgen? Sie hatte ihr empfohlen, dass sie sich ein Taxi nehmen solle. Und sie hätte Zeit. Nein, sie wollte nicht warten. Und jetzt steht sie vor der Tür. Schwester Maria, die sie bereits kannte, ist ihr schon entgegengekommen. Sie hat ihr Beileid ausgesprochen: „Ich bin selbst überrascht; Sie wissen ja, dass ich Ihren Vater mochte…“. Niemand hatte der Tochter den unterschwelligen Vorwurf gemacht, dass es doch absehbar war. Das hatte Frau Semrock befürchtet.

Schwester Maria: „Möchten Sie eine Tasse Tee oder Kaffee? Sie haben die Zeit. Wir haben bis jetzt lediglich ein paar pflegerische Sachen aufgeräumt und das Kopfteil etwas höher gestellt, aber sonst nichts verändert. Ihr Vater liegt leicht auf der Seite. Er wirkt auf mich friedlich. Ich dachte vorhin zunächst noch, er schläft. Der Arzt kommt erst gegen halb neun. Wissen Sie, er muss noch warten mit der Untersuchung. Ihr Vater bleibt noch mindestens vier Stunden bei uns hier auf Station. Anschließend kann er noch mindestens bis morgen bei uns im Abschiedsraum aufgebahrt bleiben, wenn Sie möchten…“. Sie nennen ihn hier noch „Ihren Vater“, nicht „der Verstorbene“. Frau Semrock registriert es.

Nun steht sie unschlüssig vor der Tür. Sie war schnell gekommen. Den Vater wollte sie nicht allein lassen; jetzt weiß sie nicht mehr, was sie will. Die Schwester steht neben ihr. „Ich weiß, ich war damals auch unschlüssig, als meine Mutter gestorben ist, ob ich zu ihr gehen soll oder kann. Aber ich war so froh, dass ich es dann doch gewagt habe… Aber natürlich können Sie ihn auch später noch sehen…“. Schwester Maria wartet.

„Ist es Ihnen recht, wenn ich mit Ihnen gehe – oder wollen Sie allein sein? Ich habe meinen Kolleginnen Bescheid gesagt. Niemand drängt uns.“ Die Tochter nickt, drückt die Klinke, wartet aber, bis die Schwester vorausgeht. Gedämpftes Licht brennt bereits im Zimmer. Die Schwester bietet ihr an, ein paar Minuten mit ihr still innezuhalten. „Ist das in Ordnung für Sie? Sie können solange bei Ihrem Vater bleiben, wie sie wollen…“.

„Mögen Sie sich setzen? Wohin wollen Sie ihren Stuhl?“ Beide lassen nun die Atmosphäre auf sich wirken. Es herrscht nach der Betriebsamkeit der letzten Tage – mehrfache Arztvisiten, die Unruhen des Kranken – Frieden im Zimmer. Ein Frieden, der vom Verstorbenen auszugehen scheint. Draußen hört man die erwachende Straße. Vögel zwitschern. Hier scheint die Zeit still zu stehen. Der Verstorbene wirkt trotz des leicht geöffneten Mundes nicht gequält, auch wenn die Falten tief eingegraben sind. Die Augen sind geschlossen. Lediglich das linke scheint etwas zu blinzeln. Das Gesicht ist von der langen Krankheit gezeichnet. Die Hände liegen wachsbleich auf der Decke.

Die Schwester eröffnet nach einer Zeit ein Gespräch über den Verstorbenen. „Dass es jetzt so schnell ging … Sie haben anstrengende Tage hinter sich … Er hat lange gekämpft … Wie haben Sie es in den letzten Tagen erlebt?“ Die Tochter beginnt zu erzählen, von der Schwere der letzten Zeit, dem Chaos im Haushalt, die berufliche Hektik, der Hoffnung, dazwischen die Besuche hier. Und das Zuschauen-Müssen, wie ihr Vater kämpft. Die Schwester fragt, was sie ihrem Vater gewünscht hätte. Frau Semrock überlegt und bestätigt, ja, er sei immer schon ein Kämpfer gewesen. So wie er gestorben sei, habe er auch gelebt. Nie aufgeben!

Dann entschuldigt Frau Semrock sich, dass sie nicht weinen könne. Dazwischen Pausen. Sie erzählt von dem Schuldgefühl, das sie nun habe, weil sie gestern so früh gegangen sei und ihr Vater ohne sie sterben musste. Schwester Maria: „Wir machen oft diese Erfahrung, dass Menschen dann sterben, wenn niemand im Raum ist. Vielleicht ist dann das Gehen-Können für den Menschen leichter…“. Frau Semrock nickt, klagt aber erneut, warum sie nicht noch länger geblieben sei. „Was würde Ihr Vater zu Ihnen und Ihrem Vorwurf sagen, den sie sich machen?“, fragt nun Maria. Frau Semrock lacht kurz auf. „Ach er; der hat mich immer getröstet. Auch die letzten Tage noch. Ich soll mich nicht so quälen im Leben.“ Frau Semrock schluchzt, lacht dazwischen kurz, schluchzt.

Maria gibt der Tochter ein Taschentuch, die Nase läuft. Beide schweigen eine kleine Weile. „Wer wäre denn noch gerne heute da? Wen möchten Sie später informieren?“

„Möchten Sie eine Kerze anzünden?“ Ich habe Ihnen bereits eine mitgebracht, die Sie auch später mitnehmen können … Es geht Ihnen sicher vieles durch den Kopf und durch das Herz … Wir haben ein bisschen Zeit zum Erzählen.“ (Wann hat eigentlich die Krankheit angefangen? Wer gehört noch zur Familie? Hatten Sie gute Jahre miteinander?)

Maria fragt Frau Semrock, ob sie allein bleiben wolle? Frau Semrock verneint. Es tue gut, dass sie da sei. Maria ermutigt nun Frau Semrock: „Vielleicht möchten Sie Ihrem Vater noch alle guten Wünsche und Gedanken mitgeben, die in Ihnen sind…“.

„Vielleicht möchten Sie Ihrem Vater danken …“

„Vielleicht wollen Sie ihm noch gedanklich oder laut sagen, was sie schmerzt…“

Schwerster Maria fragt Frau Semrock, als diese sie nach einiger Zeit wieder anblickt, ob sie gläubig sei. Frau Semrock nickt. „Ich mache Ihrem Vater ein Kreuzzeichen auf die Stirn. Wenn Sie möchten, können Sie ihn auch berühren…“. Frau Semrock segnet die Hände und die Stelle des Herzens auf dem Schlafanzug ihres Vaters.

„Ich möchte Ihren Vater gerne Gott anvertrauen, wenn Sie damit einverstanden sind… Wir können dazu das „Vater unser“ beten. Beide beten nun laut das „Menschheitsgebet“. …

Beispiele für die Auswertung

Wie verhält sich die Pflegekraft?

  • Sie redet nichts weg oder bagatellisiert nicht die Situation. („Er hat gekämpft…“)
  • Sie klärt immer wieder die Situation. („… Sind Sie damit einverstanden?“)
  • Sie informiert und gibt damit Sicherheit. („Ihr Vater kann noch mindestens vier Stunden auf unserer Station bleiben…“)
  • Sie spricht aus ihrer Erfahrung und ihrem Erleben, aber deutet nicht. (Beispiel für eine Deutung wäre: „Ihr Vater wollte Ihnen die Situation nicht zumuten“ führt eventuell zu Schuldgefühl bei Angehörigen: „Bin ich zu schwach?“) Die Pflegekraft lässt stattdessen Platz für die Ausdeutung der Angehörigen. („Wie haben Sie die letzten Tage erlebt?“)
  • Sie enthält sich schneller, drängelnder Psychologisierungen. (Die Angehörigen wollen das nahe Ende nicht wahrhaben, statt zu sehen, dass sie es noch nicht können.)
  • Sie nimmt sich Zeit für die Begleitung. („Die Kolleginnen wissen Bescheid…“)
  • Sie zeigt Möglichkeiten, ohne zu drängen. („Sie können sich Zeit lassen mit der Entscheidung“)
  • Sie würdigt die Leistung der Angehörigen. („Es war sicher eine anstrengende Zeit…“)
  • Sie regt an, etwas Symbolische-Rituelles zu tun. (Kerze anzünden)
  • Sie ist Vorbild. (z.B. Berührung)
  • Sie bezieht Nicht-anwesende mit ein. („Wer gehört noch zum Kreis?“)
  • Sie knüpft an spirituellen Vorstellungen an. („Sind Sie gläubig?“)

Aus: Martin Alsheimer, Beate Augustyn: Die Situation nach dem Versterben (Lehrmaterial 2006)